Sprechen von Gott

Sechste These:

Von Gott sprechen heißt: Gottes Sich-zur-Sprache-Bringen in eine Sprache bringen, die der Angesprochene versteht und in der er selbst zur Sprache kommt.

Wenn Gott spricht, spricht der, der mir inwendiger ist als mein Innerstes. Er ist der schlechthin Andere und Unverfügbare – und doch ist nichts in mir, was nicht von ihm wäre und vor ihm offen wäre. Sein Wort, in dem er sich gibt, bringt mich selbst zur Sprache. Offenbarung Gottes ist immer auch Offenbarung des Menschen. Die Decke, die sein Wort wegzieht vor seinem Angesicht, nimmt auch die Decke von meinem Angesicht hinweg, so daß ich mir selbst neu gegeben bin. Wenn Gott spricht, dann „wiederholt“ sich, spricht sich mir zu, was mein Dasein gründet: Gottes Mich-Seinlassen. In diesem Mich-Seinlassen ereignet sich ein Doppeltes: Ich bin mir gegeben – darin bin ich zugleich in die Partnerschaft, ins Gegenüber gestellt zu dem, auf den hin nun mein Fragen, mein Tun, mein Unterwegssein nach dem alles gewährenden Sinn ausgreift. Und umgekehrt: Wenn Gott sich mir läßt, wenn er sich mir zeigt und gibt, ist mir ein Doppeltes gegeben: er selbst in seinem Wort und ich als der Partner dieses Wortes, [55] als jener, der im Hören, der in der Verantwortung und in der Antwort vor Gott steht.

Die Offenbarung des Menschen, die in der Offenbarung Gottes geschieht, ist freilich etwas anderes als die Analyse meines Ich. Sie ist Ereignis, das mir beglaubigt: hier bin ich als ich, ich von meiner Wurzel her, ich von dem her, der mich kennt und mich gibt, angesprochen – hier spricht er selbst. In der Sprache des Neuen Testamentes: Der Ungläubige oder Unkundige, der in die Versammlung der Gemeinde eintritt, die prophetische Rede hört, erfährt: „Das Verborgene seines Herzens wird aufgedeckt, und so wird er auf sein Gesicht niederfallen, Gott anbeten und ausrufen: Wahrhaftig, Gott ist unter euch!“ (1 Kor 14, 25) Die Aufdeckung des Menschen durch Gottes Wort ist geradezu ein Kriterium dafür, daß Gott spricht.

Dieses Zugleich der Offenbarung Gottes und des Menschen erschließt uns auch, warum und in welchem Sinn Sprechen von Gott „mehr“ ist als bloßes Nachsprechen dessen, was Gott selber sagt. Sein einmal gegebenes Wort ist in die Situation des Menschen gegebenes Wort. Es ist darin aber ein für allemal gegeben, und deshalb muß es weitergesagt werden. Dieses Weitersagen darf seinen Anlaß, darf das Ereignis seines Ursprungs, darf die Unverfügbarkeit seines Ergangenseins nicht hinweginterpretieren. Aber das „für allemal“ erfordert die Übersetzung in das je jetzige Einmal des Menschen. Diese Übersetzung ist menschliches Tun, und doch ist auch sie etwas anderes als bloß geschickte und kundige Analyse menschlicher Verstehens- und Existenzbedingung. Die den Menschen aufdeckende Kraft des Wortes Gottes muß als solche auch in der Übersetzung zum Zug kommen. Er muß es sein, der das Verborgene des Herzens den Menschen offenlegt. Wie aber kann sich dies in menschlichem Tun vermitteln? Die Grundbedingung, die dem Menschen möglich macht, von Gott zu reden, ist das Schweigen vor Gott; sie ist aber auch – und dies ist hier hinzuzufügen – das Schweigen vor dem Menschen, jenes lebendige Stillwerden vor ihm, in das er als der, der er ist, aufgehen kann, in dem [56] er als der, der er ist, angenommen ist. Sprechen von Gott wächst so aus diesem doppelten Schweigen, aus dieser doppelten hörenden Offenheit, die doch eine einzige ist, weil Gott, der sich schenkt und in diesem Schenken den Menschen meint, ein einziger ist und weil, theologisch gesprochen, Liebe eine einzige und unteilbare Tugend ist, die sich zugleich Gott allein und von ihm aus und mit ihm dem Menschen zuwendet.