Die Wahrheit Jesu

Spezifische Zeitlichkeit

Die Kriterien von Wahrheit haben sich uns im Blick auf die Wahrheit Jesu zu Stationen von Geschichte verwandelt. Welches sind die Grundzüge der Zeitlichkeit, die im Ereignis des Aufgangs Gottes in Jesus waltet?

In der Nachfolge angeschaut: Entscheidend ist das Jetzt. Laß die Toten ihre Toten begraben – du aber folge mir. In diesem drängenden, neuen Jetzt bricht die Vergangenheit ab, sie wird irrelevant – und doch wird sie integriert, aufgenommen, verwandelt. Was immer war, wird neu in der vergebenden, heilenden Macht Jesu. Die Zukunft ist im Jetzt verschlungen. Petrus folgt unmittelbar, und erst hernach stellt er die Frage: Uns aber, die wir alles verlassen haben und dir nachgefolgt sind, was wird uns dafür zuteil? Die Zukunft ist Jesus, das ist ihre unbedingte Gewißheit und ihre unverfügbare Offenheit zugleich. Wer jetzt folgt, der ist in diesem Jetzt in seine eigene Zukunft schon eingetreten, und er hat in einem damit seine Zukunft verkauft, aus der Hand gegeben.

An der Botschaft Jesu, an der Botschaft von der Herrschaft Gottes angeschaut: Jetzt ist Gottes Herrschaft am Kommen, jetzt gilt es, sich auf sie einzulassen. Die Zeitlichkeit verwandelt sich im Herankommen dieser Herrschaft. Zentrum ist nicht mehr der Mensch, der von sich aus seine Zukunft plant und dabei doch immer die Ohnmacht erfährt, daß er alles, nur das eine nicht vermag: daß auch nur der nächste Augenblick ist. Jener, der die Quelle aller Zukunft ist, bricht herein in diese Geschichte, eröffnet von sich aus seine Zukunft im Menschen. Dies ist Gericht für den, der seine eigene Zeit festhält, dies ist Heil für den, der bereit ist, seine Zukunft aus der Quelle aller Zukunft, aus Gott her, zu empfangen. Zukunft fängt an, Gegenwart zu sein. Das verschlingt, überholt und erfüllt alle Vergangenheit. „Erfüllt ist die Zeit.“ Zukunft aber ist nicht Verlängerung ihres Anbruches in der Gegenwart; denn diese Gegenwart ist Weggenossenschaft mit dem Gott, der am Kommen bleibt. Alles Vergehen muß noch dahinein vergehen, daß Gott alles in allem wird.

An der Gestalt Jesu, an seinem Weg und Geheimnis angeschaut: Im gegenwärtigen Jesus, in dem, der verkündet, wirkt, leidet, begegnet ein Geheimnis, das über den Augenblick hinausweist: Wer ist dieser? In ihm erfüllt sich etwas, in ihm kommt etwas, kommt einer an, man [114] liest ihn in den Titeln der großen Erwartung und Verheißung. Die Vorgeschichte löst sich ein in seiner Gegenwart. Und mehr als sie. In ihm erkennen alsdann die Jünger im Geist: Er ist das Wort, in dem alles erschaffen ist. Der Sinn von Welt, die Herkunft von Welt, das von Gott in der Schöpfung Gedachte und Zugedachte tritt ein in den Horizont der Geschichte. Das Wort, das er ist, aber wird er auf seinem Weg neu. Denn er wird auch dem Sprachlosen, Dunkeln, dem, was nichts von Gott, ja wahrhaft das Gegenteil von Gott sagt, zum Wort. Aus dem Verstummen des Todes und aus dem Warum der Frage und Anklage sagt er sein Du zum Vater und verwandelt so alles zum Wort der göttlichen Liebe.

Er ist jener, der kommen soll. Seine Gegenwart löst nicht nur Verheißung ein, in ihr bricht Zukunft an, Zukunft Gottes, die aber an ihn gebunden bleibt, die seine Zukunft ist. Gerade deswegen schockiert es, daß er wieder geht, daß er in sein Gehen gekommen ist. Bis dann offenbar wird, daß er in sein Kommen geht. Und als der, der kommen wird, ist er jetzt da, jetzt in unserer Mitte.

In solcher horizontalen Geschichte spielt die vertikale: sein Hersein vom Vater, sein Hinsein zum Vater. Vater und Sohn haben einander zur Zukunft in der Gegenwart des einen Geistes. Um dogmatische Ausdrücke zu bemühen: Ökonomische Trinität ist kein Anhängsel an die immanente, immanente löst sich nicht auf in die ökonomische. Und doch geschehen beide ineinander. Beide sind die eine Geschichte Gottes und mit Gott. Und wieder gilt: Diese Geschichte ist geschehen, und sie geschieht weiter, sie ist endgültig und offen zugleich.