Erfahrungen mit Wort und Sakrament

Spezifische Zeitlichkeit

Lassen Sie mich diesem ersten Gedanken einen zweiten, scheinbar abwegigen Seitengedanken hinzufügen; aber wir werden durch ihn tiefer in die Bedeutung des ersten hineinzukommen vermögen: Fragen wir uns einmal, wie es dann, wenn ich so christologisch das Wort Gottes und das Wort der Offenbarung zu verstehen versuche, mit der Gottesoffenbarung im Alten Testament steht. Und ich glaube daran: Das Alte Testament ist Offenbarungswort.

Vielleicht darf ich wagen, einmal die Botschaft der Bibel Israels, dessen, was wir Altes Testament nennen, auf einen Grundvorgang zu konzentrieren, nicht um aus diesem Grundvorgang in systematisierender Verfügung das Ganze abzuleiten, sondern um durch die Vielgestalt der Worte auf den einen Sprechenden und Prüfenden hindurchzuhören.

Ich denke da an jene Szene am Horeb, an die Offenbarung des Gottesnamens Jahwe. Mit Franz Rosenzweig: „Ich werde sein, der ich sein werde“, in der Übersetzung, die uns eher geläufig ist: „Ich bin der Ich-bin-da“ (vgl. Ex 3,14). Beide Male im Grunde dasselbe. Unter einem konkreten Ruf zu einem konkreten Dienst am konkreten Rettungsgeschehen stellt Mose die Rückfrage: Wer bist denn eigentlich du? Woraufhin verlasse ich mich, wenn ich mich auf deinen Ruf verlasse? Und dann die Antwort Gottes: Ich werde da sein, laß dich ein, und an jeder Wendung des Weges stehe ich als der, der sein wird. Du wirst mich finden, du wirst mich erkennen als der, der je dort, wo du am Ende und an der Wende stehst, Zukunft gewährt. Ich werde dir Zukunft geben und Zukunft sein. So geht im Grunde alle prophetische Rede, so geht der Schrei der Psalmen, so geht auch das Preisen jener Weisheit, die anders ist als jene große Weisheit der Völker, so geht die Geschichte Israels immer und immer wieder. Das einmal gegebene Wort, auf das dein Glaube zurückgreift, weil es einmal gegeben ist, das ist der Grund; es gewährt die Zukunft, die je neue und andere Zukunft, die aber gerade deswegen Gegenwart eröffnet, Leben; Wandeln in der Gegenwart Gottes, einfältiges Wandeln in Demut mit dem Herrn, gegenwärtiges Erfahren dessen, der Zukunft ist.

Ja, dieses „Modell“ ist ergriffen, erfüllt, überboten in jener Erfahrung Jesu, von der Bernhard spricht. Im „zeitlichen Experiment“ seines Lebens „im Fleische“ öffnet sich immer neu das künftige Antlitz des Vaters, das zukommende Antlitz [74] des Vaters. Das ganze Leben Jesu geht auf dieses Zukommen des Vaters hin. Der Vater ist immer der, zu dem er kommt und der auf ihn zukommt, der je Größere, aber gerade darin der Haltende und Gegenwärtige. Ein für allemal ist er eingepflanzt in diesem Vater als sein Sohn, ein für allemal lebt er nur auf ihn, und so, in diesem Sich-Verlassen auf den Ursprung im Vater, zugehend auf den Vater als die je größere Zukunft, gerade so schenkt sich jene unvergleichliche, ganz menschliche und ganz göttliche Gegenwärtigkeit: arm zu sein und sanft zu sein und Frieden zu stiften und barmherzig zu sein und die Traurigkeit auszustehen und die Verfolgung, sorglos zu leben wie der Spatz auf dem Dach und die Lilie auf dem Feld, allein in die Hände des Vaters gestellt (vgl. Mt 5,1–11; 6,25–34).

Diese Zeitvermessung, Herkunft aus dem gegebenen Wort, Zukunft auf den je selben und doch so gerade je neuen Gott und darin Gegenwart im jeweiligen Augenblick, das ist das Leben Jesu, das ist das Leben des Christen, und das sind die Zeitdimensionen des Wortes und des Sakramentes. Wer sich auf das Wort Gottes einläßt, der läßt sich ein auf die Zusage des je größeren, je kommenden Gottes, er bleibt treu beim ein für allemal gegebenen Ursprung, und er gewinnt je neu Gegenwart. Wer sich einläßt ins Sakrament, besser: durch das Sakrament auf den, der ihm da begegnet und der ihn da berührt, der hat Leben, aber nicht als eine platte Verfügbarkeit, sondern als den Anbruch des je größeren Zukünftigen, als die Verheißung des je größeren Zukünftigen, und er wurzelt sich doch ein in das Ein-für-allemal-Gegebensein der Heilszusage und Heilswirklichkeit in Jesus Christus und lebt so gerade in der Gegenwart.

Dieses Leben aus dem gegebenen Wort, aus dem eph’hapax, aus dem Ein-für-allemal Jesu Christi, auf die unabschließbar je größere Zukunft Gottes hin, und darin das Haben des je gegenwärtigen Augenblicks: das ist die Zeitstruktur des Wortes Gottes und des Sakramentes und dessen, der mit dem Wort und mit dem Sakrament lebt.