Die Wahrheit Jesu

Spezifische Zeitlichkeit

Keine andere Wahrheit ist zeitlicher als die des Religiösen. Erscheinung, Offenbarung, Berufung – Ereignisse also des Durchbruchs – sind nicht nur äußerliches Stiftungs-, sondern innerliches Ursprungsgeschehen von Religion. Das theophanische Ereignis ist nicht nur Zugang zur Religion, sondern ihre Sache selbst; denn das Göttliche, das heilige Geheimnis treten ins Interesse der Religion nicht in einem abstrakt betrachtbaren An-sich, sondern in einem konkreten Für-uns – und gerade dieses Für-mich, Für-uns ist nicht Verfügung vom Menschen her, sondern reiner, souveräner Aufgang des Heiligen. Das theophanische Ereignis ist an sich selbst – dies kennzeichnet seine spezifische Zeitlichkeit – Koinzidenz von reinster Gegenwart mit schärfster Differenz. Nur Gott ist da, die Schwingen der Seraphe oder die Wolke erfüllen den ganzen Raum – und zugleich bin ich zu Boden geworfen, erfahre ich mich als Staub und Asche, breche aus ins Wehe-mir. [103] Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verknoten sich auf eine einmalige, unverwechselbare Weise im theophanischen Ereignis. Es geschieht jetzt, zur bestimmten Stunde, innerhalb des Ablaufs von Zeit. Doch in diesem innerzeitlichen Jetzt trifft ein anderes Jetzt ein, das entzogene Jetzt des unbedingten Anfangs. Es passiert nicht etwas unter anderem, es passiert „das Ganze“, „alles“. Was war, steht insgesamt zur Disposition. Es hat kein Recht, sich gegen dieses Jetzt zu wenden; denn – auch wenn nicht ausdrücklich darauf reflektiert wird – das jetzt Aufgehende zeigt von seinem inneren Rang her, daß es des Ganzen mächtig, daß es der Ursprung, daß es der alle Geschichte gewährende, überholende Anfang ist. Schöpfungsgeschichte ist kein zufälliger Zusatz zur Offenbarungsgeschichte. Nicht nur mittelbar wie die absolute Herkunft, sondern unmittelbar wird im theophanischen Jetzt die absolute Zukunft offen. Geschichte kann nicht mehr so weitergehen wie bisher. Wo der Gott erscheint, wo er spricht und ruft, ist es schlechterdings fraglich, ob es überhaupt weitergeht. Es liegt an ihm, an ihm allein. Ich habe keine Möglichkeiten und Titel des Rechnens, Rechtens und Erwartens in der Hand. Zukunft ist seine Zukunft, oder sie ist nicht.