Spiritualität und Gemeinschaft
Spiritualität: Aufbruch und Widerfahrnis*
Freilich gibt es da zwei Engführungen. Die eine hat uns bereits beschäftigt: anstelle von Spiritualität unerschlossene Objektivität. Sicher, das an sich Wahre muß vertreten, muß verkündet werden, gelegen oder ungelegen. Aber wenn es nur vertreten wird, bleibt es in einer Distanz zum Leben. Auf einer bloßen Position, sie mag noch so sicher sein, läßt sich nicht wahrhaft leben, auf einer Stelle läßt sich treten, aber nicht gehen.
Keineswegs weniger mißlich ist allerdings das andere: Spiritualität als Rezept. Man sagt mir, wie ich es machen solle. Aber wenn ich es machen will, muß ich es selber fertigbringen. Und so bleibe ich mit mir allein, finde ich im Grunde nicht über mich hinaus. Doch wer nur sich selbst findet, hat der nicht nur seine Isolation systematisiert? Jene haben nicht unrecht, die sagen, es sei fatal, [75] wenn man der Witwe von Sarepta ein Rezeptbuch liefere, statt ihr einen Elija zu schicken.
Wir brauchen den Elija, der uns den verschlossenen Himmel öffnet. Und wir brauchen jene, die uns dorthin führen, wo die lebendigen Wasser fließen. Die Quellen brauchen ihren Weg zu uns, und wir brauchen den Weg zu den Quellen.
Dann aber ist Spiritualität keine einsame Sache, die wir mit uns allein abmachen, mit Anstrengungen, Übungen, Rezepten bewerkstelligen könnten. Spiritualität geschieht wesenhaft als doppelte, als Gegenbewegung. Ich muß aufbrechen, ich muß den ersten Schritt tun, muß mich in Bewegung setzen – nur so komme ich in Gang. Aber zugleich muß etwas sich mir erschließen, etwas auf mich zukommen, etwas muß zu mir her bereits in Gang sein. Jede Bewegung, jede Wahrnehmung, jeder Gedanke geht so: Ich schlage die Augen auf, ich greife entwerfend über mich hinaus – und etwas gibt sich mir zu sehen, Wirklichkeit kommt auf mich zu, tritt in mich ein. Und wo es ums Ganze, wo es um das Dasein und die Welt geht, da ist es erst recht so. Nur im doppelten Aufbruch erschließt sich der Sinn von allem: im Aufbruch meiner gespannten Aufmerksamkeit, die sich über sich hinauswagt – im Aufbruch dessen, was sich mir zeigen und schenken will. Ohne meinen Aufbruch, ohne meine Wachheit widerführe mir nur ein dumpfer Aufprall, ergäbe sich keine Erfahrung. Ohne den Aufbruch der Wirklichkeit, die sich mir antut und erschließt, bliebe mein Entwurf Traum, bloß Phantasie.
Am radikalsten gilt das universale Gesetz der Gegenbewegung, wo es um mein Verhältnis zum Geheimnis aller Geheimnisse, um mein Verhältnis zu Gott geht. Ich muß suchen, um zu finden – finden aber heißt, mich bereits gefunden wissen. Ich tue den ersten Schritt, wage [76] den Weg ohne Vorgabe und Sicherheit – den Weg aber finde ich erst, indem ich denjenigen finde, der schon unterwegs war zu mir, ehe ich aufgebrochen bin. Selber den ersten Schritt tun, dabei aber den finden, der zuvor schon den ersten Schritt auf mich zu getan hat: Dies heißt den Weg dorthin erschließen, wohin ich von mir selbst aus nie gelangen kann. Das ist Spiritualität, zumindest christliche Spiritualität. Sie macht damit Ernst, daß Gott Gott ist und nur er das Entscheidende vermag. Und sie macht ebenso damit Ernst, daß wir Bild Gottes sind, daß wir es mit Gott gemeinsam haben dürfen, Wesen des Anfangens, Wesen des ersten Schrittes zu sein. Allein sein Weg zu mir, auf dem ich geschaffen und erlöst bin, kann mein Weg sein zu mir, zur Welt, zu ihm. Ich muß den ersten Schritt tun, ohne den dieser Weg mir nie Weg werden könnte; aber bei diesem ersten Schritt entdecke ich, daß er zuvor schon den ersten Schritt auf mich zu getan hat und daß mein Selbergehen Mitgehen mit ihm ist. Ihn lieben heißt Ernst machen damit, daß er als erster mich geliebt hat (vgl. 1 Joh4,10).
Also nicht verschlossene Objektivität, sondern Weg. Weg aber, den ich selber gehe, indem ich ihn mitgehe mit dem, der auf mich zukommt, schon auf mich zugekommen ist.