Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“
Spuren vom Karsamstag zu Ostern
Was ist die Antwort? Stehenlassen der Erfahrung Reinhold Schneiders, als Grenzerfahrung, bestimmt. Sicher auch hinweisen auf die verborgene Kraft dessen, was in solchem Abbruch bleibt und wächst. Hinweisen auf den alle Not um den Glauben nährenden, im Gebet eingeschlossenen Glauben auch an jenes, was entgleitet. Hinweisen auf die Zuversicht, daß das Schiff Petri ankommen wird, in dessen Laderaum die Pulverfässer geborgen [126] sind – „gerade dieser Ballast mag beitragen zu einigermaßen sicherer Fahrt. Es wird ankommen; und dann ist von der Ladung nichts mehr zu befürchten. Denn wir werden sein wie die Träumenden“ (241). Aber wer nur „stehenläßt“, hat die Herausforderung ebensowenig ganz angenommen wie jener, der nur die Argumente anführt, die über die Grenze hinausdeuten, an welche Reinhold Schneider im „Winter in Wien“ anstößt. Ruft die Frömmigkeit des „Winter in Wien“, ruft die Selbstbescheidung, die Ehrfurcht, in welcher alle seine Fragen und Erfahrungen verlauten, nicht einfach nach dem Zeugnis, das von anderer Seite her zugeht auf sein Zeugnis? Wenige Stichworte mögen genügen:
Reinhold Schneider ist ein Mensch des Ganzen. Nichts bleibt „draußen“ aus seinem Horizont. Und doch staunt er über sich selber, über den weltweiten Lebenskreis anderer, „während ich mein Leben lang auf dem Geländer des westeuropäischen Balkons auf und nieder hüpfte und nie den Abflug gewagt habe. Ich bin Gefangener Europas geblieben, des Restes, den wir so nennen“ (70). Die tragischen Ahnungen Reinhold Schneiders für die Menschheitsgeschichte haben sich in den zwei Jahrzehnten nach „Winter in Wien“ keineswegs zerstreuen lassen. Aber ein neues Element mischt sich in die Konstellation hinein: andere Völker, Kulturen sind eingetreten in den Lichtraum der einen Welt – und sie bringen ein Potential anderer Erfahrungen, anderen Verhältnisses zu Leben und Zukunft mit. Werden wir sie sich selbst entfremden, sie einweben in das Geflecht der sich und alles verplanenden technischen Zivilisation? Oder werden wir von ihnen lernen, wird unsere Zivilisation – und damit auch unser Denken und Leben – innerlich von den „reinen Elementen“ verwandelt werden, die in unsere Blutbahn eindringen wollen? Vielleicht klingt das zu naiv, zu romantisch. Optimismus ist unangebracht. Doch nicht die Zuversicht. Es gibt die Unbefangenheit, leben zu wollen und leben zu können auch mit den dunklen und rätselvollen Zusammenhängen des Kosmos und der Geschichte, die es in der bloßen Konsequenz neuzeitlich-europäischer Kultur so kaum gäbe. Es gibt darin und darüber hinaus eine Spontanität geistlichen Lebens, das nicht philanthropische Harmlosigkeit christlich überhöht, sondern den Mut zur Ein- [127] fahrt ins „Bergwerk“ ebenso wie den zur Auferstehung erschließt. Neue Quellen: Werden wir aus ihnen schöpfen? Werden sie Strömung werden können? Gegen einen Untergang oder über einen Untergang hinaus? Solches läge in der Linie dessen, was Reinhold Schneider selbst erhofft. Und wird darin nicht doch auch das Christentum wieder relevant für All und Geschichte?
Die widersprüchliche Verstrickung des Lebens in den Schmerz, ja in die Zerstörung bleibt freilich ein rätselvolles Grundgesetz des Lebens. Berühren wir nicht hier die tiefste Wunde im Glauben Reinhold Schneiders? Er erkennt nicht mehr das Antlitz des liebenden Vaters. Die Lippen bleiben geschlossen vor dem Geheimnis der Liebe, der Eucharistie.
Und doch kann gerade die Eucharistie uns hier einen Weg weisen. Sie ist Selbsthingabe, Verschwinden in das Leben des anderen hinein, das sie nährt. Seufzt die Schöpfung nicht einfach danach, daß dieses eucharistische Mysterium offenbar werde als das, wovon in der Ordnung der Vergänglichkeit die Verflechtung von Tod und Leben spiegelbildlich Zeugnis gibt? Eucharistische Ontologie: Ontologie der Liebe, die sich in den anderen, das andere verliert und auch im andern gewinnt. Sicher, das ist nicht eine glatte Lösung aller Fragen, aber es könnte die Lösung der Lippen sein, daß sie sich öffnen für die Hostie.
Und nun ein letzes Wort: Einen Monat nach dem abschließenden Datum unter der letzten Zeile des „Winter in Wien“ („Freiburg, 7.3.1958“, 284) war Reinhold Schneider tot. Er brach zusammen am Karsamstag, sein Tod geschah am Ostersonntag. Es gibt einen Text, der Reinhold Schneider „abholt“ in seinem Karsamstag und der mit ihm hinausweist aus dem Bergwerk des Glaubens auf jenes Ostern, das auch er für seinen Glauben erhoffte: „Der Glaube, der zu Grabe fährt, mit Christus ins Grab, wird vielleicht auferstehn“ (208). Der Text, mit dem wir von außen nochmals eintreten in die Mitte der Erfahrung Reinhold Schneiders, stammt aus der ersten Collatio des Hexaemeron von Bonaventura; der Heilige spricht von Christus als der Mitte der Mathematik, will sagen, der Geometrie des universalen, alles umspannenden Raumes: „Diese Mitte wurde Christus in seiner Kreuzigung. Im Psalm heißt es: ,Unser König [128] wirkte vor Ewigkeiten das Heil in Mitten der Erde.‘ Denn die Erde ist genau die Mitte, und darum ist sie am niedrigsten und nicht sonderlich groß, und weil sie am niedrigsten und begrenzt ist, darum empfängt sie alle himmlischen Einflüsse und bewirkt das wundervolle Sprießen. So wurde auch der Gottessohn der Niedrigste, arm und gering, unsere Erde annehmend, aus Erde geschaffen, und er kam nicht nur auf die Oberfläche der Erde, sondern in den Abgrund ihres Mittelpunktes, denn er wirkte das Heil in Mitten der Erde, weil nach der Kreuzigung seine Seele in die Unterwelt hinabstieg und die himmlischen Sitze wieder herstellte. Diese Mitte bringt das Heil.“1
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Bonaventura, Hexaemeron I,22f. Zitiert nach der Übersetzung von Wilhelm Nyssen: Bonaventura, Das Sechstagewerk. Lateinisch und deutsch, München 1964, 85–87. ↩︎