Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Stellung der Frage

Die philosophische Interpretation philosophischer Gedanken erfordert das Mitdenken dieser Gedanken. Dem Mitdenken zeigen sie sich erst als Gedanken. Nun ist im Mitdenken zweierlei vorausgesetzt:

Zum einen die Durchgängigkeit des Denkens, jene eigentümliche Offenheit der denkenden Ursprünge also, kraft derer sie denkend ins selbe münden: was ein anderer denkt, wird von mir als Gedanke erkannt, selbst denkend von mir vollzogen und als ein selbes in seinem und meinem Denken, als ein Gedanke verstanden.

Zum anderen aber der Unterschied des Denkens, d. h. jene ebenso eigentümliche Selbstzugehörigkeit jedes Gedankens: was ein anderer denkt, liegt nicht einfach vor, sondern muß von ihm her vorgebracht und von mir sodann aus meinem eigenen Ursprung nach- und eingeholt, zu mir und von mir „übersetzt“, es muß eben mitgedacht werden, um sich als Gedanke und als dieser Gedanke zu bewähren.

Denken ist demnach ein übergreifend selbes, sonst gäbe es kein Mit-denken, und Denken ist zugleich ein jeweils anderes, sonst gäbe es kein Mit-denken.

Ein philosophischer Gedanke denkt nicht nur, daß etwas so und so sei, sondern er denkt, es sei zu denken, daß es so und so sei. Er vergißt also – wenigstens seinem Anspruch und seiner Bemühung nach – sich als Gedanke nicht in sein Gedachtes, sondern weiß, warum und wie er es denkt. Dem philosophisch Denkenden ist nicht nur der Aufenthalt im Durchgängigen des Denkens, sondern auch die Weise seines Aufenthaltes in diesem gewährt aus dem Hinblick [25] aufs Maß des Denkens, das seine Durchgängigkeit konstituiert, d. h. darauf, wie es ist, auf „Wahrheit“. Wo nur gesagt wird, es sei so und so, oder wo dieses Sagen nur durch zum Denken äußere Gründe und Maße abgesichert wird, handelt es sich nicht um Philosophie. Ihr Unterscheidendes ist dies: sie ist Denken, das sich als Denken von Wesen, Maß und Grenze des Denkens her durchsichtig ist.

Dies hat fürs interpretierende Mitdenken philosophischer Gedanken eine methodische Folge:
Es kann nicht das Gedachte dieser Gedanken als abgelöstes Ergebnis in seinen eigenen Mitvollzug übertragen und unmittelbar auf es zu denken, es kann sich also nicht mit der Aussage begnügen, die es in den zu interpretierenden Texten vorfindet. Es muß vielmehr auf die Weise des Denkens, auf das Sich-Verstehen des Denkens in diesen Texten und somit auf die Gründe und Bedingungen achten, aus denen das fremde Denken sich zu seinen Aussagen versteht. Nur dann ist das Philosophische dieser Texte und Aussagen im Denken anwesend und sind sie auf philosophische Weise verstanden.

Es gilt also, den Unterschied des Denkens in die Durchgängigkeit des Denkens einzubringen, bzw., in der anderen Richtung, den Lichtkreis der Durchgängigkeit des Denkens ins Eigene der unterschiedenen Ursprünge hinein auszudehnen. Das heißt indessen nicht den Unterschied der Ursprünge auslöschen; denn sonst wäre das Denken ja doch zu einem Vorliegenden, sich automatisch Vollstreckenden, alles Selbst- und Neudenken und so auch alles Mitdenken Verzehrenden geworden. Im Gegenteil, indem das Selbe des Denkens sich so aus dem Unterschied der Ursprünge zeitigt, daß es diesen Unterschied bewahrt, indem das Denken sich also aus der unaufhebbaren Vielheit seiner Weisen her zu sich selbst versteht, weiß es allererst um sich, um den Unterschied seiner Weisen zu seinem nie eine Weise und nie alle Weisen werdenden und doch jede und alle seine Weisen in ihnen selbst bemessenden und gewährenden Wesen.

In dieser „Geschichtlichkeit“ seiner selbst, die Unbedingtheit und Endlichkeit des Denkens in ihr unvermischtes und ungetrenntes Zugleich vollbringt, wächst das Denken in die Philosophie, die in, aus und über den vielen philosophischen Gedanken lebt und geschieht. Der unterscheidenden Weise des Denkens im mitgedachten Ge- [26] danken inne, weitet sich freilich die Achtsamkeit des Mitdenkens über den zu interpretierenden Gedanken hinaus. Im Hinweis auf die Philosophie als auf die Geschichtlichkeit ihrer selbst ist dies bereits angedeutet:

In keinem seiner geschichtlichen Ursprünge weiß das Denken erschöpfend um seine Weise. Dem philosophisch konstitutiven Versuch des Denkens, sich in die Angemessenheit seiner Weise an sein Wesen zu bringen, verbirgt sich zwar nicht notwendig das Daß der wesentlichen Unangemessenheit – keine Weise holt das Wesen ein –, stets aber verbirgt sich, wenigstens teilweise, das Wie; denn sonst könnte die Unangemessenheit aufgearbeitet werden. Es bleiben also im Sich-unselbstverständlich-Werden des Denkens in der Philosophie konkret doch je unbedachte Selbstverständlichkeiten zurück, die einem Mitdenken aus anderer geschichtlicher Grundstellung heraus auf gehen können, ohne daß dieses Mitdenken sich selbst wiederum der Differenz von Weise und Wesen zu entschlagen vermöchte.

Die Wahrheit der Philosophie ist nie ganz in ihren Gestalten, sondern im Gespräch, in welchem diese Gestalten sich der Wahrheit und zugleich einander verdanken auf Hoffnung hin1. Verborgen weiß dies alle Bemühung des Mitdenkens anderer Gedanken – denn warum sonst geschähe es?

Was sagt das für unser Vorhaben, Gedanken der Spätphilosophie Schellings darzustellen und zu interpretieren? Schon bevor wir auf die besondere Hinsicht eingehen, unter der diese Gedanken mitgedacht werden sollen, sagt es dreierlei:

  1. Fürs Ganze des Mitdenkens sagt es: Selbigkeit und Unterschied des Denkens dort und hier müssen bedacht werden. Es gilt also den Versuch, selbst, d. h. als Möglichkeit eigenen Denkens, die Gedanken Schellings zu vollziehen: Läßt sich so denken, wie Schelling dachte? Und es gilt zugleich den anderen und doch selben Versuch, die Gedanken Schellings zu „übersetzen“2 : nur wenn das Mitdenken es von sich aus anders sagt, als Schelling es sagte, und wenn es [27] dazu noch die Andersheit selbst sagt, sagt es „dasselbe“, was Schelling dachte.

  2. Für den Anfang des Mitdenkens sagt es: Die erste zu klärende Frage heißt: Wie ist bei Schelling gedacht, wie versteht er sein Denken, sich, seinen Gedanken im Denken, wie mißt er sich das Maß philosophischen Denkens zu? Das erste, was das Mitdenken mitzudenken hat, ist die Weise, wie im mitzudenkenden Gedanken gedacht wird. Denn nur so ist die Aussage Schellings als die seine, authentisch und mit sich identisch, im Blick. Gerade bei der Interpretation von Gedanken des deutschen Idealismus – aber auch etwa bei denen der Hochscholastik – liegen viele Mißverständnisse nahe, wenn man die Frage nach der Weise des Denkens überspringt, die Aussagen unter formal stimmende, teils ihnen sogar immanente Schemata subsumiert und unversehens so in der vermeintlichen Treue zum gedachten Gedanken den denkenden Gedanken der Vorlage dennoch verfehlt.

  3. Für das Ziel des Mitdenkens sagt es: Das Mitdenken führt sein Gespräch nicht zu Ende, wo es mit dem, was es selbst mitbringt, nur dem begegnet, was auf sich wissende Weise der partnerische Gedanke ihm zubringt. Die Rückseite des mitgedachten Gedankens, das Woher seines Denk-Geschickes, das unbedacht in ihm sich Mitdenkende, die verborgenen Selbstverständlichkeiten, die er impliziert, drängen ins Licht des Gespräches, wo dieses einen Gedanken der Geschichte nicht nur historisch feststellen oder dem Rang dieses Gedankens unmittelbar gerecht werden, sondern der Sache der Philosophie selbst dienen will: der Wahrheit des Denkens in und über der Vielfalt seiner je geschichtlich-endlichen Weisen.

So beginnt unsere Untersuchung über Schellings Spätphilosophie mit der Untersuchung der Weise des Denkens in dieser Spätphilosophie. Das umfaßt nach dem Ausgeführten die Frage, wie Schelling selbst in seiner Spätphilosophie das Denken und sein Denken versteht, und darüber hinaus die Frage, auf welche uns unselbstverständliche Weise er Wesen, Vollzug und Bedeutung des Denkens in seinem Denken selbstverständlich voraussetzt.

[28] Der Anfang unseres Mitdenkens mit der Frage nach dem Denken in Schellings Spätphilosophie ergibt sich demnach aus dem Wesen des philosophischen Mitdenkens philosophischer Gedanken allgemein. Für diesen Anfang sprechen überdies zwei besondere Gründe: Der erste liegt im Selbstverständnis des Denkens der Epoche, die Schellings Spätphilosophie abschließt: des deutschen Idealismus. In ihm geschieht im Ganzen die Reflexion des Denkens auf sich selbst in einer Radikalität und Universalität wie nie zuvor. Selbst wenn man nicht dem wohlbegründeten Ergebnis der Untersuchung von Walter Schulz zustimmen wollte, nach welchem Schellings Spätphilosophie die Voll-Endung dieser Selbstreflexion darstellt, so wäre letztere zumindest der Hintergrund, von dem aus Schelling, in seiner früheren Philosophie zweifellos grundlegend an ihr beteiligt, nunmehr zu einer neuen Thematik und einem neuen Selbstverständnis des Denkens durchstieße. Die Beschäftigung mit Schellings zentralen Gedanken kommt an der Problematik des Denkens als eines solchen nicht vorbei.

Den weiteren Grund für den Ansatz bei der Erörterung der Weise des Denkens bietet die spezielle Thematik unserer Untersuchung: Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie. Soll das Verhältnis zwischen Gott und dem Denken philosophisch geklärt werden, so stellt sich nicht die Frage voraus: Was oder wer ist Gott?, sondern die Frage: Was ist das Denken? Denn das Denken ist das Organ der philosophischen Überlegung, seine Reichweite und seine Weise zu entwerfen oder aufzunehmen grenzen ein, als was ihm Gott zu erscheinen oder nicht zu erscheinen vermag. Auch wenn das Denken dazu führte, sich selbst aufzugeben in die Übermächtigung vom göttlichen Gott und von seinem nicht aus dem Denken abzuleitenden Aufgang, müßte es doch als Denken dorthin führen. Nur von sich ausgehend ist es als philosophisches Denken auch imstande, von sich wegzugehen zum Früheren und Anfänglicheren seiner selbst.


  1. Vgl. hierzu F. Rosenzweig, Stern der Erlösung (Heidelberg [^3]1954) 2. Teil, 3. Buch, 152–213 bzw. 223. ↩︎

  2. Zum übersetzen vgl. F. Rosenzweig, Die Schrift und Luther, in: Kleinere Schriften (Berlin 1937) 141–166; ders., Nachwort zu Jehuda Halevi, a. a. O. 200–219; B. Welte, Ein Vorschlag zur Methode der Theologie heute, in: Auf der Spur des Ewigen (Freiburg 1965) 410–426. ↩︎