Wegmarken der Einheit

Struktur der Hierarchie – Struktur der Liebe

Es ist Liebe, daß Gott es uns schenkt, zu leben, wie er lebt. Es ist Liebe, daß er sein Leben zu unserem Leben macht. Es ist Liebe, daß er dies tut, indem er seinen Sohn als unseren Bruder, als Mensch zu uns sendet. Es ist Liebe, daß Jesus seine Sendung uns weitergibt, uns zum Sakrament seines einzigen Mittlerseins macht. – Nur aus dieser Liebe können wir auch die vielfältige Struktur verstehen, in welcher sich Sendung in der Kirche und ihrem Amt entfaltet.

Die kostbarsten Aussagen hierüber finden sich wohl bei den Kirchenvätern, in einer Zeit, da päpstliches Amt, Kollegium der Bischöfe und Dienst des einzelnen Bischofs ihr geschichtli- [106] ches Profil ausbilden, und dann wiederum im Zweiten Vatikanischen Konzil sowie bei den Päpsten unserer Zeit, etwa bei Paul VI. oder bei Johannes Paul II., in einer Epoche, in welcher – ich glaube dies so sagen zu dürfen – der Heilige Geist uns die alte Wahrheit der Kirche neu und tiefer wieder vor Augen stellt. Es ist hier nicht möglich, diese Aussagen auszufalten. Nur eines soll knapp versucht werden: hinzuweisen auf die Logik der Liebe, die in Unterschied, Vielfalt und Einheit der Strukturelemente des hierarchischen Amtes zutage tritt.

Zur Liebe gehört eine eigentümliche Einsamkeit und eine eigentümliche Gemeinsamkeit, zur Liebe gehört, daß ich stets nur als erster lieben kann, und gehört genauso, daß sich Liebe als gegenseitige Liebe vollendet. Zur Liebe gehört das Einswerden miteinander, in dem alle handeln und Anfang sind. Gehört aber auch die Initiative eines jeden, die durch den Zusammenklang aller nicht ausgelöscht wird. Sicher folgt aus diesem Charakter der Liebe eine unterschiedliche Struktur, je nachdem, welche Gemeinschaft durch Liebe zu stiften oder aufrechtzuerhalten ist, eine Gemeinschaft zwischen Freunden, eine Gemeinschaft der Ehe, eine Gemeinschaft mit einem sachlichen Auftrag. Doch stets werden die genannten Momente – Liebe als erster Schritt und Liebe als Gegenseitigkeit – auf diese oder jene Weise die Struktur zu bestimmen haben.

Wie zeigt sich nun innerhalb der von Jesus für seine Kirche ausgehenden Sendung des kirchlichen Amtes solche Struktur der Liebe? Sie muß sich hier besonders deutlich zeigen, weil hier der als Urheber und Grund der Struktur unmittelbar am Werke ist, der die Liebe selber ist. Wir können ein dreifaches Handeln Jesu unterscheiden, drei Richtungen in seiner Konstitution des Apostolats, die sich hernach auch in drei Merkmalen innerhalb der Hierarchie der Kirche widerspiegeln.

Zum einen ruft Jesus den einzelnen Apostel. Es ist ein Akt persönlicher Liebe, der eine persönliche Antwort verlangt. Die [107] Berufungsgeschichten der Apostel gehören zum Kostbarsten, was uns die Evangelien vom Leben Jesu erschließen. Sodann ist es die Konstitution der Zwölf als zwölf. Markus in seiner prägnanten Art sagt: „Er machte (konstituierte) die Zwölf“ (Mk 3,14). In der Apostelgeschichte, in den Briefen, in den Evangelien tritt immer wieder zutage, daß es sich hier nicht um eine Summe von einzelnen, sondern um eine Gruppe handelt, die in derselben Sendung zum einen und gemeinsamen Zeugnis berufen ist, die in der Gemeinschaft mit demselben Herrn eine Gemeinschaft miteinander bildet. Das dritte und keineswegs dahinter zurücktretende Moment aber ist die Berufung des Petrus, der seinen Namen und seine Deutung im Blick auf eine besondere, unvertretbare, einmalige, im Willen des Herrn verankerte Funktion für die Kirche, aber auch für das Kollegium der Zwölf erhält (vgl. Mt 16,10–19; Joh 1,42; Joh 21,15–19; Lk 22,31–34 u.a.m.).

Also: Petrus, der eine, der als Fels die Kirche tragen und die Brüder stärken soll; die Apostel, die in die Einheit des Zeugnisses und in die Gegenseitigkeit der Liebe gewiesen sind; der einzelne Apostel, der als Zeuge der Auferstehung und Gesandter des Herrn Gemeinde in der Welt trägt und gründet: das sind die Momente, die zusammenspielen im Wachstum der Kirche. Sie liegen nicht nebeneinander und außereinander, sondern durchdringen sich und bilden unter sich jene unverwechselbare Gestalt, welche die Kirche in ihrer Ursprungszeit prägt. Es ist in der Tat eine Struktur der Liebe, die sich hier zeigt: Die Verantwortung des einzelnen, der mit seiner Liebe der persönlichen Liebe des Herrn antwortet und sie weiterbezeugt, die Einsamkeit dessen, der das Mehr seines Liebens und seiner Sendung durch nichts und niemand abgelten kann, verbinden sich mit der Gemeinsamkeit aller, die, je einzeln gerufen und je einzeln verantwortlich und beauftragt, doch den einen Geist empfangen und das einstimmige Zeugnis des Glaubens an die Liebe und der Liebe den Menschen schulden.

[108] Wird von hier aus nicht verständlich und plausibel, was die scheinbar so differenzierte und im Grunde doch so „einfache“ Struktur des hierarchischen Dienstes aussagt, die das Zweite Vatikanische Konzil auf eindrucksvolle Weise ins Licht hebt (vgl. vor allem Lumen gentium, 3. Kapitel, bes. Nr. 22f)? Der Papst, kraft seines Amtes Stellvertreter Christi und Hirt der ganzen Kirche, hat volle, höchste und universale Gewalt über die Kirche und kann sie immer frei ausüben. „Die Ordnung der Bischöfe aber, die dem Kollegium der Apostel im Lehr– und Hirtenamt nachfolgt, ja, in welcher die Körperschaft der Apostel immerfort weiter besteht, ist gemeinsam mit ihrem Haupt, dem Bischof von Rom, und niemals ohne dieses Haupt, gleichfalls Träger der höchsten und vollen Gewalt über die ganze Kirche. Diese Gewalt kann nur unter Zustimmung des Bischofs von Rom ausgeübt werden“ (Lumen Gentium, 22). Die Bischöfe wiederum, „die den Teilkirchen vorstehen, üben als einzelne ihr Hirtenamt über den ihnen anvertrauten Anteil des Gottesvolkes, nicht über andere Kirchen und nicht über die Gesamtkirche aus. Aber als Glieder des Bischofskollegiums und rechtmäßige Nachfolger der Apostel sind sie aufgrund von Christi Stiftung und Vorschrift zur Sorge für die Gesamtkirche gehalten“ (ebd., 23). Über die streng kollegialen Akte wie Konzilien oder ein Handeln auf ausdrücklichen Wunsch oder mit zumindest stillschweigender Zustimmung des Papstes hinaus tritt die kollegiale Einheit auch in den wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Bischöfe zu den Teilkirchen und zur Gesamtkirche in Erscheinung (vgl. ebd.). Wie der Papst als Nachfolger Petri das immerwährende, sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielheit von Bischöfen und Gläubigen ist, so sind die Einzelbischöfe sichtbares Prinzip und Fundament der Einheit in ihren Teilkirchen, die nach dem Bild der Gesamtkirche gestaltet sind (vgl. ebd.). Dieselbe Liebe des Herrn ist als Vollmacht zur Leitung des Ganzen gegenwärtig in der Sorge [109] des Papstes für die Gesamtkirche und in der gemeinsamen Sorge des Kollegiums der Bischöfe in Einheit mit dem Papst. Dieselbe Liebe ist auch der Auftrag, der Grund und der Inhalt der Sendung des einzelnen Bischofs für sein Bistum und seine Verpflichtung, die Sorge fürs Ganze in konkreter Brüderlichkeit mit den anderen Bischöfen und in der Einheit mit dem Papst mitzutragen.

Natürlich wären dem Geist Gottes vielerlei Wege offengestanden, die Sendung in der Kirche zu strukturieren. Und doch entspricht es in besonderer Weise der „Ökonomie“ des göttlichen Heilshandelns, daß er dieses Bild der Liebe zum inneren Strukturprinzip erhoben hat: die Verantwortung des einen, der, nach seiner größeren Liebe gefragt, den Dienst des Herrn für seine Herde übernimmt, die er mit seinem Blut, mit seiner einmaligen Liebe sich erworben hat – und in Ergänzung dazu der gemeinsame Dienst, der die Verantwortung des je einzelnen nicht aus-, sondern einschließt. Wir können es uns nicht tief genug einprägen, daß gerade im Kreis der Apostel nach der zeichenhaften Handlung der Fußwaschung, welche die Liebe bis zum letzten darstellen soll (vgl. Joh 13,1 ff), der Herr das Neue Gebot, das Lebensgesetz seiner Kirche verkündet. Es gilt zuerst für die Apostel selbst und jene, die ihnen im Dienste nachfolgen. Und dieses Neue Gebot ist nicht nur die Anweisung für ihr Leben, sondern auch der Inhalt und die Form ihres Dienstes.

Am Ende derselben Abschiedsreden, an deren Anfang Johannes das Neue Gebot setzt, steht das Hohepriesterliche Gebet. Und ehe Jesus für alle, die je glauben werden, die volle Einheit vom Vater erbittet, erfleht er sie für die Apostel unmittelbar: „Heiliger Vater, bewahre sie in deinem Namen, den du mir gegeben hast, damit sie eins sind wie wir“ (Joh 17,11b). Das Leben der Dreifaltigkeit soll im Leben und im Dienst der Apostel und ihrer Nachfolger aufscheinen und spiegelt sich genau darin, daß die höchste Vollmacht in der Kirche von dem [110] einen, dem Papst, und von der Gemeinschaft der vielen miteinander, vom Kollegium der Bischöfe in Einheit mit dem Papst, ausgeübt wird. Einheit und Dreifaltigkeit kommen so zur Darstellung. Das Leben der göttlichen Einheit ist nicht ein Einerlei, sondern geschieht im gegenseitigen Sich-Verherrlichen und Sich-Verschenken. Darum ist Kollegialität auch nicht eine bloß von den einzelnen herzustellende Übereinkunft, sondern ihr gegenseitiger Einklang im Einklang mit dem Einen. Die göttliche Liebe als eine und dreifaltige drängt so durch die Dienst- und Lebensform der Hierarchie dazu, Lebensform der Kirche zu werden: eben damit alle eins seien und damit die Welt glaube (vgl. Joh 17,21–23; vgl. zu diesem Abschnitt Chiara Lubich, Im Dienst an allen, S. 119f; Uomini al servizio di tutti, S. 176–178).