Was heißt Glaubenssituation
Synthese
[34] Wie stehen nun die zwei oben entworfenen Profile von Glaubenssituation zueinander? Das erste scheint nur etwas für die Theologen oder doch für die Gläubigen zu sein, es kann allenfalls dazu dienen, Postulate aus der Perspektive des Glaubens an eine Situationsanalyse zu erheben. Das zweite Profil scheint demgegenüber unabhängig von der spezifischen Perspektive des Glaubens als Glaube zu gelten, damit aber unserer Grundthese zu widersprechen, daß diese Perspektive für die Glaubenssituation und ihre Analyse schlechterdings konstitutiv sei. Ein umfassender Begriff der Glaubenssituation erfordert indessen die Synthese beider Profile. Was sich im ersten zeigt, ist wie ein Vorzeichen vor der Klammer des zweiten, das die Felder aufreißt, auf die eine Analyse der Glaubenssituation eingehen muß. Dieses „Vorzeichen“ wirkt sich sodann bei den konkreten Schritten und vor allem bei einer Auswertung und Anwendung der Analyse aus. Der „Überschuß“ des Glaubens über seine empirische Faßbarkeit besteht also nicht in einem quantitativen Zusatz, so daß die Analyse der Glaubenssituation zwei Abschnitte [a) natürliche, b) übernatürliche Komponenten der Glaubenssituation] umfaßte und sie additiv zu einem Gesamt verbände. Worin besteht aber dann die verändernde Bedeutung des Glaubens als Glaube, seiner gnadenhaften Dimension, für die Untersuchung der Glaubenssituation? Um grundsätzlich hierauf zu antworten, empfiehlt sich die Umkehrung der gestellten Frage. Sie lautet: Was bedeutet der empirische Befund für eine aus dem Glauben als Glauben begründete Sicht seiner Situation? Antwort: Der empirische Befund ist das „Fleisch“, in dem sich Glaube inkarniert hat und inkarnieren muß. Glaube, so sahen wir bereits, hat sich je schon in eine Situation, die zwischen Menschen, zwischen den Bedingungen und Verhältnissen ihres Lebens spielt, hineinbegeben. Diese Umstände, diese Objektivationen, diese Kontexte, müssen uns als das „Worin“ des Glaubens in den Blick treten, wenn er in unseren Blick treten soll. Es genügt aber gerade nicht, sie festzustellen; sie müssen vielmehr in ihrer Spannung zum Glauben gesehen werden: Glaube ist in ihnen verschattet, erleichtert, erschwert, auf eine bestimmte Perspektive seines Inhalts oder Vollzugs hin zugespitzt. Die „Differentialanalyse“ zwischen der gegebenen Glaubenssituation und dem in sie eingebundenen und ihr gegenüber kritisch-autonomen Glaubensanspruch ist erst Analyse der Glaubenssituation. Glaube kommt also aus der Situation auf uns zu. Diese Richtung impliziert die gegenläufige: Glaube kommt als Anspruch und Angebot auf die Situation zu. Es gilt also, ihre Gegebenheiten auf die Möglichkeiten und Schwierigkeiten hin zu lesen, wie Glaube mit ihnen in Entsprechung und Widerspruch „koexistieren“ könne. Gefordert ist eine hermeneutische Aufschlüsselung der Situation auf den Glauben hin; wenn man so will, eine „Synthese“ zwischen Glaube und Situation, in welcher beide erst zur „Glaubenssituation“ koalieren und sich als Glaubenssituation analysieren lassen. Das aber hat Rückwirkungen auch für das Programm der Erhebung des empirischen Befundes. Setzen wir z.B. als „Ergebnis“ einer empirischen Untersuchung an: die mit „Glaube“ assoziierten Wertvorstellungen sind nicht jene, die von den [35] Menschen heute unmittelbar als ihre eigenen erfahren werden1, so können daraus nicht sofort „Konsequenzen“ gezogen werden (z.B. Streichung der dysfunktional erscheinenden Verheißungen des Glaubens, Uminterpretierung auf die aktuellen Bedürfnisse oder aber passive Hinnahme dessen, daß Kirche immer mehr an den Rand des Weichbildes der Gesellschaft gedrängt wird). Vielmehr ergeben sich für eine theologische Situationsanalyse die entscheidenden Fragen erst aus diesem empirischen Befund. Diese Fragen aber führen ihrerseits wiederum zu Rückfragen an die Empirie. Etwas: Was bedeutet die Dissonanz zwischen allgemein erfahrenen Bedürfnissen und in der Antwort des Glaubens implizierten Bedürfnissen des Menschen? Liegt hier eine Verdrängung elementarer menschlicher Fragen vor, die wieder ins Bewußtsein der Menschen zurückdrängen? Oder geschieht eine Erweiterung menschlichen Fragens, auf die hin der totale Anspruch des Glaubens, die ganze Antwort Gottes ans menschliche Dasein zu deuten, neu ausgelegt werden muß? Oder aber läßt sich in der äußeren Dissonanz eine funktionale oder existentielle Konsonanz gegenwärtiger Bedürfnisse mit jenen eines früheren Stadiums der Gesellschaft feststellen, in dem der Glaube nahtloser in die allgemein erfahrenen Bedürfnisse eingepaßt erschien? Müßte und könnte demnach also der Glaube unmittelbar auf die heutigen faktischen Bedürfnisse hin interpretiert oder muß die Spannung ausgehalten, wie muß sie bestanden werden? Die „Dysfunktionalität“ zwischen Glaube und Erfahrung bedarf also selbst nochmals einer theologischen Interpretation. Diese hat aber, wie die gestellten Fragen zeigen, eine Erweiterung und Vertiefung auch des empirischen Programms der Situationserhebung zur Folge.
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FB 56–68. ↩︎