Das Verständnis vom Menschen aus dem Anspruch des Evangeliums

Theologische Dimension

Lassen Sie mich hier nun den oftmals befürchteten und auch von mir normalerweise, wenn ich ihn nicht selber tue, kritisierten Sprung in die theologische Dimension tun.

Wie sieht dieser Sprung aus? Ich meine, wir sollten ihn nicht so machen, daß wir mit erhobenem Zeigefinger sagen: lesen wir doch die Schöpfungsordnung und das, was nachträglich an ihr die Erlösungsordnung noch verdeutlicht hat, und dann ist alles wiederum, wie es einstmals war, und die Neuzeit war nur eine schlimme Episode, die vielleicht zwar bis zum Ende der Welt geht, aber wir nehmen das, was nachher kommt, schon jetzt vorweg für uns privat. Ich glaube, wir sollten einmal dahin gehen, wo Gott selber seine Anthropologie uns gezeigt und gemacht hat. Er tat es nicht in Auskünften, sondern – ich bin so naiv, daran zu glauben, das zu bekennen und das auch so zu sagen –, indem er Mensch wurde, in der Inkarnation. Und am meisten nicht dort, wo wir ein integrales, glattes und gelöstes Menschenbild an ihm ablesen könnten, sondern dort, wo er den Menschen so übernommen hat, wie er in aller Aporie, in aller Ratlosigkeit, in allem Dunkel, in aller Zerspaltung und Zerstückung, in allem Verlust seiner Identität ist, als der ecce homo. Schauen wir einmal dorthin und schauen wir, was darin gesagt ist, daß einer Mensch wird, und zwar nicht nur ein Mensch, sondern Mensch in der Stellvertretung, Mensch so, daß er das Schicksal der anderen angenommen hat, Mensch so, daß an Ihm alles Menschliche bis hin zur Schuld und zum Fluch abzulegen ist. Die erste Aussage hieße hier: der Mensch ist einer, der von einem anderen übernommen werden kann. Der Mensch ist einer, der ein anderer werden kann. Der Mensch ist ein Wesen, das so wenig in sich selber geschlossen ist, daß ein anderer ganz und gar dieses Wesen übernehmen, sich aneignen, es zu seinem eigenen Wesen machen kann: Gott selbst, Gott kann Mensch werden. Wer radikal glaubt, weiß vom Menschen an erster Stelle dies, daß Gott Mensch werden kann und der Mensch also etwas ist, was Gott werden kann. Hier aber werden wir nun plötzlich in einer merkwürdigen neuen Doppelseitigkeit die vier alten Thesen der Anthropologie, der klassischen Anthropologie, neu lesen können, so neu lesen können, daß die alten Aussagen der Theologie und der Philosophie gedeckt und sogleich umgedreht sind:

[16] a) anthropos panta pos estin, anima quodammodo est omnia. Dies gilt nun doppelseitig. Zuerst so, daß der Mensch der Ort ist, an dem Gott alles werden, an dem Gott sich mit allen identifizieren kann, an dem Gott ins Äußerste seines Gegenteils hineinsteigen kann, in dem Gott das absolut Befremdliche – ja Widergöttliche – aneignen, in seinen eigenen Lebensvollzug hineinziehen kann. Der Mensch, der Ort der absoluten Entäußerung Gottes, indem Gott sein Gottsein auf neue Weise einholt, indem er sich selber bis ins Äußerste verschenkt und gibt und sich darin gerade als Gott zeigt, weil er derjenige wird, der sich gibt, der sich entäußert, der Agape – Liebe sich entäußern, sich verschenken läßt. Und dadurch, daß Gott sich so mit dem Menschen identifiziert, kann der Mensch alles werden, und dieses Alleswerden hat nun nichts bloß Ästhetizistisches, nichts bloß Intellektualistisches oder Voluntaristisches an sich, sondern es wird neu. Der Mensch wird zum Wesen einer radikalen und universalen dienenden Solidarität, die sich entäußern kann, die alles annehmen kann, die alles in sich übernehmen und hineingeben kann. Er wird selber zu demjenigen, derweil er der Beschenkte ist, der sich bis zum Äußersten zu verschenken vermag, ohne sich darin verlieren zu müssen, weil er eben nur dorthin sich entäußert, wohin der sich entäußert hat, der ihn sucht. Dies die Umkehrung und Restitution und Steigerung dessen – anima homo quodammodo omnia.

b) Darin aber geschieht etwas Ungeheuerliches mit dem, was zuvor gesagt war von der Seele als der einzigen Form des Körpers, von dem Gestaltprinzip, das die Seele für den Leib ist. Nun gilt als neuer Satz, als gefährlicher Satz, als Satz, der sozusagen seine eigene aristotelische Herkunft so sprengt, daß die Worte dabei umgedreht werden, aber dennoch ihren Sinn erkennen lassen, daß der Mensch zur forma dei wird, daß der Mensch das Wesen wird, das für Gott, für den konkret existierenden Gott, für den konkret sich gebenden Gott, für den konkret sich offenbarenden und sich entäußernden Gott Formprinzip wird. Gott tritt unter die Voraussetzung des Menschen. Für die Theologen unter uns gesagt – in sehr eckigen Klammern –, die alte Lehre von der Idiomenkommunikation , die wir so oft abtun, ist eigentlich eine Spitze der Aussage über Gott: daß wir das Menschlichste von Gott [17] aussagen können, daß das Menschlichste von Gott angeeignet wird in Jesus Christus, daß Gott sterben kann, daß Gott schwitzen kann, daß Gott fragen kann. Dies zeigt am meisten von Gott: Der Mensch wird die Form Gottes. Denn hier wird deutlich, indem sich Gott zum Menschen hin entäußert, wer er ist: sich geben, Liebe, sich verströmen, äußerste Gemeinschaft. Indem aber so der Mensch zur forma dei wird, wird Gott selber jenes omnia, jenes Alles, jenes Äußerste, wird er jenes Größte, das nicht mehr nur wesenlose Transzendentalität ist, sondern lebendige Transzendenz, lebendige Person, wird er zur forma hominus, wird er zu demjenigen, der den Menschen durch und durch prägen kann, der sich im Menschen wiederholen kann, der den Menschen ganz und gar ernstnehmen kann, der im Menschen sein eigenes Schicksal haben kann, der den Menschen als seinen Partner in sein eigenes Leben hineinholen, der durch den Menschen sein eigenes Leben sogar weitergeben kann.

c) Und nun wird ebenso umgedreht jene dritte Formel vom zoon logon echon. Der Mensch wird zunächst einmal nicht jener, der den logos hat, sondern der vom logos gehabt wird, von jenem logos, der sich und alles sagen, der sich allem und allen schenken kann. Er ist jener, der vom logos gehabt wird, will sagen: jener, in dem der logos selber sich gibt, in dem Gott sich offenbart. Gott ist nicht mehr einer, der irgendwo in einer reinen Transzendenz sich zeigt, sondern Gott ist derjenige, der sich im Menschen, im Menschlichsten des Menschen, zeigt, sagt, zuneigt und offenbart, so daß wir im Menschlichsten des Menschen Jesus Christus Gott gewahren können. Und so gerade wird der Mensch derjenige, der den logos hat, der den Sinn hat, der jenes in sich trägt, was seine Unentscheidbarkeit aus sich selber entscheidet, was seine Differenz zur Identität bringt, was seine vielen Rollen in ein Wort hineinsammelt, was aus den vielen Silben ein einziges Wort werden läßt. Hier begegnen wir dem Menschen, als dem, der seinen logos, seinen Sinn hat, weil er gerade nicht nur sich selbst hat, nicht nur sich selber findet, nicht nur sich selber erfüllt, sondern weil er den anderen hat, der ihn sein läßt, der ihn liebt - weil er mit ihm in der innigsten Kommunion steht.

[18] d) Und darin wird zuletzt und zutiefst und zuhöchst etwas anderes neu, nämlich jene horizontale Transzendenz des Menschen, in dem er das zoon politikon auf eine neue Weise ist, in der Weise, wie nun ein Mensch andere Menschen liebt. In der Weise, wie Jesus als Mensch Gott gibt, indem er sich gibt, und so neue Gesellschaft, neues Miteinandersein baut. In der Weise, wie Jesus in seinem Blut eine neue Menschheit zeugt und hier zeigt, wie wir zueinander stehen, wird der Mensch aus seiner Isolierung endgültig befreit und es wird dem Menschen gegeben, daß er nirgendwo mehr als in seiner Liebe, als in seiner Agape, als in seinem sich Entäußern und Hingeben an den anderen göttliche Gemeinschaft selber wiederholt; denn wenn wir so eins sind miteinander, wie das Maß der Liebe Jesu es uns zeigt, sind wir eins wie der Vater und der Sohn, und zwischen uns, in unserer Polis, zeigt sich Gott. Eine Schwerpunktverlagerung im Verständnis des Bildes: vom Menschen: gerade nicht als jener, der sich besitzt, sich hat und sich selber schließt ist – christlich – der Mensch Bild Gottes, sondern in der Weise, wie er sich gibt, sich schenkt und übereignet. Er ist nicht mehr Bild Gottes, so wie Adam Gottes Bild sein wollte, der vom Selbstbesitz und der Selbsterfüllung her, von der radikalen Selbstgenügsamkeit her dachte, sondern Gott zeigt, daß er nicht die Selbstgenügsamkeit, sondern die Gemeinschaft und die Entäußerung und darin jenes Zusichkommen im Übersichhinaus ist. Deswegen wird der Mensch nicht durch einen ideologischen Überbau, sondern durch die Weise, wie er sich selber in seiner Situation neu versteht, seine dreifache Krise christlich neu unter dem Anspruch des Evangeliums bewältigen können. Indem wir nicht zuerst unsere Identität suchen in der Reflexibilität auf uns selber, sondern indem wir Identifikation durch Hingabe, Identifikation durch Übernahme, Identifikation durch uns geben können und Identifikation durch jene Angstfreiheit des liebenden Übernommenseins von ihm erleben. Darin gerade wird Kommunikation gelingen, denn es gibt ein Wort und dieses Wort ist Fleisch geworden und hat sich uns gegeben und wohnt unter uns. Es gibt ein Wort, das mich bei meinem bleibenden Namen nennt und Dich bei Deinem bleibenden Namen. Wir gehören schon zusammen in [19] dem, der sich mit derselben Leidenschaft und Radikalität und Totalität Dir gegeben hat und mir gegeben hat. Wir gehören schon zusammen und im Blick auf dieses Wort dürfen wir wissen, daß wir zusammengehören, und der Ort, an dem Identität und Kommunikation geschieht, ist die Übernahme jenes Dienstes, der die erste innerste Triebfeder auch dessen ist, wem unsere Bildung und wem unser Dienst gilt.