Was heißt Glaubenssituation

Theologische Implikationen der Fragen nach der Glaubenssituation

Die Rede von der Glaubenssituation ist gängig geworden. Das hat seinen sachlichen Anlaß. Es ist nicht mehr selbstverständlich, daß, was und wie man glaubt; die Einflüsse der Gesellschaft und der Kultur, denen gegenüber sich Glaube zu artikulieren hat, die seine Objektivationen mitbestimmen, die seine Funktionalität für das Leben, die sein Außenprofil und sein Selbstverständnis mitprägen, sind in einem raschen und grundlegenden Wandel begriffen. Man wird dieser Umstände inne, man fühlt sich durch sie aufgerufen, etwas für den Glauben, will sagen für die Möglichkeit des Glaubens in unserer Gesellschaft und für die Korrektur des Verhältnisses zwischen dem Glauben und der Gesellschaft zu unternehmen – und man geht daran, die Gestalt des Glaubens, die dieser unter verschiedenen Bedingungen und Einflüssen annimmt, zu vermessen und mit den genannten Bedingungen und Einflüssen zu verrechnen; diese bemißt man sodann ihrerseits und sucht sie auf ihre Wurzeln und Wirkweisen hin zu analysieren. Es wäre vorschnell, ein solches Unterfangen einfachhin als dem Glauben unange-[24]messen abzutun. Es wäre aber auch vorschnell, sich munter ans Vermessen der Situation zu begeben, ohne nach den Implikaten zu fragen. Was ist das für ein Verständnis von Glauben, das einer Bestandsaufnahme des Faktischen Relevanz für den Glauben selber beimißt, ja das Glaube und Situation überhaupt miteinander korreliert? Und welche Implikate stecken überhaupt und in concreto im Messen des Faktischen seinerseits? Es ist ja keineswegs selbstverständlich, was und mit welchem Maß jeweils gemessen wird. Eine Analyse der Glaubenssituation kann also nicht geschehen, ohne daß der Begriff der Glaubenssituation selbst geklärt wird. Ohne diese Klärung wäre weder die theologische Deutung und Bedeutung des Ergebnisses der Analyse noch wäre überhaupt klar, was die Analyse selbst analysiert. Natürlich muß eine solche Analyse sich auf Daten beziehen, die sich unabhängig vom Glauben dessen, der analysiert, objektivieren lassen. Doch schon die „Unabhängigkeit“ der Daten von der Perspektive, in der sie erscheinen, ist nur garantiert, wenn die Perspektive durchsichtig ist, in der Daten als Daten von „Glaubenssituation“ sichtbar und korrelierbar werden. Da Glaube aber, wie immer er zu verstehen sei, sich selbst als Glaube versteht, also ein Selbstverständnis und dessen immanente Transparenz einschließt, ist die konstitutive Perspektive von Glaubenssituationen die des Selbstverständnisses von Glaube als Glaube. Dieses Selbstverständnis des Glaubens schließt auch ein Verständnis von Glaubenssituation als Ort des Glaubens im Dasein des einzelnen und der Gesellschaft mit ein. Das Verhalten dessen, der glaubt, der zu glauben oder nicht zu glauben glaubt, dessen jedenfalls, der zu seinem Glauben oder Nichtglauben ein Verhältnis hat und in diesem Verhältnis ein Verständnis von Glaube und Glaubenssituation investiert, bestimmt das jeweilige Verhalten zur Situation, damit aber diese selbst. Daher müßte das aus der Perspektive des Glaubens (insofern also theologisch) formulierte Verständnis von Glaube und Glaubenssituation auch den interessieren, der im Sinn einer „glaubensneutralen“ Religionssoziologie an einer Analyse der Glaubenssituation arbeitet. Falten wir den Sachverhalt noch etwas deutlicher auseinander. Eine Analyse der Glaubenssituation scheint sich aufs erste in der Tat beschränken zu können auf die Erhebung von Fakten und Zusammenhängen von Fakten, die einfachhin vorliegen und keinen bestimmten Standort dessen voraussetzen, der sie erhebt und korreliert. Es gibt einen „Bereich“ von Glauben (dieses Wort in einem noch völlig unspezifischen Sinn genommen und auf die Bandbreite dessen, was „Religion“ meint, hin ausgelegt), der sich einigermaßen deutlich anderen Bereichen gegenüber abgrenzen oder doch in seinen Überlappungen fixieren läßt. In diesem Bereich ergeben sich, will man die Situation des so verstandenen Glaubens erheben, die folgenden Fragefelder:

  1. Zunächst gibt es, und dies ist am unmittelbarsten zugänglich, Objektivationen von religiöser Überzeugung, eine meßbare religiöse Praxis.

  2. Diese kann sodann daraufhin befragt werden, was eben faktisch an religiöser Überzeugung ihr entspricht. Die Fragen, die hier anstehen, sind vor allem die folgenden: Decken sich Praxis (Objektivation) und Überzeugung? Gibt es einen Überschuß der Praxis über die Überzeugung oder der Überzeugung über die Praxis oder eine Differenz zwischen der immanenten Aussage der Objektivation (z. B. Kirchgang) und der Überzeugung (z. B. subjektives religiöses Bedürfnis ohne innere Bin-[25]dung an die Glaubensgemeinschaft, an deren Gottesdienst man teilnimmt)? Wie sind die Unterschiede zwischen Objektivation und Überzeugung motiviert?

  3. Ein weiteres Fragefeld schließt sich unmittelbar an; es betrifft das Verhältnis zwischen Praxis und Überzeugung der einzelnen und der Institution, die der Praxis die Objektivationen und der persönlichen Überzeugung die Inhalte anbieten. Welches Ausmaß an Identifikation, Kritik, faktischer Distanz und bewußter Abwendung läßt sich feststellen? Wie verhält sich das Selbstverständnis der Institution zum religiösen Selbstverständnis derer, die ihr zugehören, und wie verhalten sich das Selbstverständnis der Institution und seine Reproduktion im – wenigstens vermeintlich – kritischen oder zustimmenden Verständnis der Mitglieder zueinander?

  4. Von der Überzeugung und Praxis des einzelnen führt nicht nur eine Verbindung zu den Institutionen, die einerseits Überzeugung und Praxis „normieren“, anderseits durch die faktische Überzeugung und Praxis ihrer Mitglieder selbst bestimmt sind, sondern auch eine Beziehung zu den „außerreligiösen“ Denk- und Verhaltensweisen des einzelnen und der Gesellschaft. Vor allem stehen hier zur Frage der Bezug zwischen dem persönlich praktizierten Wertsystem und dem im Glauben bzw. in der ihm zugeordneten Institution vorgestellten Wertsystem und der Bezug zwischen dem im Glauben und seiner Institution und dem in der Gesellschaft erfahrenen Wertsystem sowie die Analyse der Faktoren, die diese Bezüge bestimmen.

Was rechtfertigt nun die aufgestellte These, die Perspektive des Selbstverständnisses von Glaube und des aus diesem Selbstverständnis resultierenden Verständnisses von Glaubenssituation sei für die Erhebung der Glaubenssituation selbst von Belang? Eine Antwort gibt sich in drei Stufen.

  1. Die Erhebung des Selbstverständnisses von Glaube gehört, wie gezeigt, in das Programm der Situationserhebung selbst mit hinein: Wie verstehen die Glaubenden und Nichtglaubenden ihren eigenen Glauben oder Unglauben und seine Relation zu dem, was sie als institutionell vorgelegte oder gemeinhin als solche verstandene Glaubensnorm erfahren? Wie artikuliert sich das Selbstverständnis des Glaubens im Verständnis der den Glauben repräsentierenden Institution? Wie verhalten sich das in Objektivationen des Glaubens ursprünglich investierte und das faktisch mit ihnen assoziierte Glaubensverständnis?

  2. Die Aufzählung und Addierung der an der Situation beteiligten Selbstverständnisse des Glaubens allein reichte nicht aus, um ihren Bezug aufeinander klarzustellen. Ein Bezug zu je anderen Selbstverständnissen des Glaubens ist im je eigenen enthalten (z. B. Gleichgültigkeit, Konflikt, Ausschließung anderen Verständnissen gegenüber); jedes Selbstverständnis umschließt den Raum der anderen Selbstverständnisse und ihrer Einwirkung aufs eigene. Somit ist immer auch das Verständnis dessen impliziert, was Glaubenssituation grundsätzlich und konkret bedeutet. Dann aber gilt: Nicht nur die Deutung der Glaubenssituation, sondern auch der faktische Befund von Glaubenssituation hängt vom Verhältnis zur Glaubenssituation ab; denn eine Glaubenssituation, die z. B. als irrelevant für den Glauben selbst betrachtet würde, wirkte und wäre also in sich anders als eine solche, die von Interesse für den Glauben der Beteiligten ist.

  3. Nicht nur der Glaubende, sondern auch der die Glaubenssituation Befragende hat als solcher ein Vorverständnis von Glaubenssituation. Das Wort Glaubenssituation hätte gar keinen Sinn, wenn nicht eine Wechselwirkung zwischen Glaube und [26] Situation akzeptiert wird. Wer Glaubenssituation sagt, der sagt im Grunde bereits mit: Glaube schafft Situation, dadurch daß er sich äußert, und Situation wirkt auf den Glauben, dadurch daß dieser sich je jetzt, je unter bestimmten Einflüssen artikuliert. Damit praktiziert aber jemand, der über die Glaubenssituation nachdenkt oder sie analysiert, bereits ein Vorverständnis von Glaube; dieses Vorverständnis sagt: Glaube und Situation haben miteinander zu tun.

Ein solches fundamentales Vorverständnis von Glaube umfaßt freilich eine große Bandbreite voneinander abweichender, ja einander entgegengesetzter konkreter Interpretationen von Glaube. Auch wer in seiner Situationsanalyse „nichts anderes“ tut als Fakten erheben und korrelieren, realisiert darin ein solchermaßen konkretes Verständnis von Glaube als Glaube, das für sein Ergebnis Konsequenzen hat. Vermeint er, nicht nur etwas von der Glaubenssituation, sondern sie selbst zu erheben, indem er Fakten und ihre Beziehung erhebt, so supponiert er entweder, daß Glaube in seiner Verrechenbarkeit mit den die Situation bestimmenden Einflüssen aufgeht oder aber daß Glaube als Glaube seinen „Überschuß“ über diese Einflüsse in eine supranaturalistische Nichtobjektivierbarkeit hinein entzieht. Versteht er die erhebbaren Fakten nur als einen „Beitrag“ zur Erhellung von Glaubenssituation, das, was Glaubenssituation und Glaube von sich her seien, offenlassend, sich auf ihre faktische Faßbarkeit und empirisch fixierbare Relevanz beschränkend, so bleibt dennoch ein Feld von Fragen offen. Es wurde zwar die Möglichkeit konzediert, zumal durch die gängige Identifizierung bestimmter Objektivationen mit Religion einen Bereich Religion als äußerlich abgrenzbar und gegeben anzusetzen; wenn aber nach dem Zusammenhang dieser Objektivationen mit dem, was ihre „Praxis“ jeweils motiviert, gefragt wird, geraten wir über apriorisch festlegbare oder durch sich selbst eindeutig ausweisbare Grenzen eines Bereichs hinaus und ins Gesamt menschlicher Existenz und ihrer Bezüge hinein. Es gehört gerade in die Definition des „Bereichs“ Glaube oder Religion, daß, deren innerem Anspruch gemäß, Dasein und Verhältnis zur Welt im ganzen mitbetroffen sind. Jede Analyse der Glaubenssituation reicht unausweichlich in die Verflechtung der Glaubenssituation mit der Gesamtsituation hinein; da aber – nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ – nie eine Analyse der Gesamtsituation geleistet werden kann, bedarf es je eines thetisch eingeengten Ansatzes. In ihm ist eine Zuordnung von Glaubens- und Gesamtsituation impliziert, und diese Zuordnung ist ihrerseits einem Vorverständnis von Glaube verpflichtet, dessen Erhellung in den methodischen Ansatz hineingehört.

Ein Vorverständnis von Glaube steckt indessen nicht nur im Ansatz, sondern auch in der Methode von Glaubenserhebungen, Überzeugungen werden durch Befragung einzelner festgestellt. Die Fragen an die einzelnen aber werden je in einer bestimmten Frageperspektive formuliert. Diese zielt zwar einerseits auf den Verständnishorizont der Befragten, andererseits begrenzt sie aber – omnis determinatio negatio – den Antwortraum der Befragten und trägt so an sie eine ihnen äußere Verstehensperspektive heran; eine schlechterdings nichts präjudizierende Frageperspektive hätte gar nicht die Chance, etwas zu erfragen. Die Frageperspektive selbst aber ist je einem Verständnis von Glaube verpflichtet, dessen Erhellung wiederum in den Ansatz der Untersuchung mit hineingehört, soll ihr Ergebnis eindeutig lesbar sein.

[27] Gerade für die Bedeutung einer Untersuchung der Glaubenssituation für den Kreis derer und über den Kreis derer hinaus, die sie um eines bestimmten Interesses an dieser Glaubenssituation willen veranlassen, macht es notwendig, die latente „Theologie“ zu erhellen, die in jedem Ansatz einer Untersuchung der Glaubenssituation steckt. Es kann nach dem Ausgeführten nicht darum gehen, keine nichtempirischen „Vorurteile“ bei einer Analyse der Glaubenssituation zu haben, sondern nur darum, sie zu formulieren, sie in ihre Durchsichtigkeit einzubringen.

Der Ansatz einer Analyse der Glaubenssituation muß also seine „Theologie“ aufzeigen und rechtfertigen, und er muß es gerade, um auch Bedeutung und Tragweite des gewählten Ansatzes für jene aufzudecken, die anderen theologischen oder theologisch relevanten Implikaten verpflichtet sind als den die Analyse leitenden. Es geht letztlich also darum, zugleich den Innen- und Außenbezug des zugrundeliegenden „theologischen“ Begriffes von Glaubenssituation und die gegenseitige Implikation dieses Innen- und Außenbezuges ineinander zu erhellen und daraus methodische Konsequenzen abzuleiten, die sowohl für die Anlage der Situationsanalyse wie auch für die Anwendung ihrer Resultate auf die konkrete Situation maßgeblich sind. Diese Reflexion des Außen im Innen, des Innen im Außen leistet für die Sache christlichen Glaubens aber die Fundamentaltheologie, die als innertheologische Disziplin zugleich die Relation des spezifisch Theologischen zum Nichttheologischen zu bedenken und zu begründen sucht. Damit ist der Ort der nachfolgenden Ausführungen fixiert.