Endgültigkeit und Offenheit

Theologische Kriterien

Gegen alle drei umrissenen Typen des Dialogverständnisses hat die Theologie kritische Bemerkungen vorzubringen, überall erscheint die Synthese zwischen Endgültigkeit und Offenheit christlicher Wahrheit nicht voll gelungen. Sie kann sich nur zeigen aus dem rechten Verständnis der Mitte christlicher Botschaft. Jesus Christus ist, [21] als das inmitten der Geschichte „Fleisch gewordene Wort“ Gottes, die endgültige Offenheit Gottes für den Menschen; diese endgültige Offenheit aber ist endgültige, unüberbietbare Wahrheit. Was heißt das, welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?

2.1 Immer wieder und gerade seit der Aufklärung wird der Skandal christlichen Anspruchs darin gesehen, daß eine geschichtlich endliche Gestalt, ein geschichtlich endliches Ereignis und eine geschichtlich endlich verfaßte Botschaft das letzte und ganze Wort des je größeren Gottes, der je größeren Wahrheit sein sollen. Das eine Licht absoluter Wahrheit kann endlichen Augen doch je nur im gebrochenen Strahl, in der verkürzenden Perspektive begegnen. Wenn das Evangelium, wenn die Offenbarung Gottes in Jesus so verstanden würden, daß dadurch die Geschichte menschlicher Wahrheitssuche, die Bemühung um das je neue, je gemäßere Sagen des Unsäglichen, die Notwendigkeit der Aufhebung und Vermittlung jeder Gestalt, die doch das Unfaßliche nie zu fassen vermag, überholt wären, so träte die eigentümliche Dimension der christlichen Wahrheit nicht in den Blick. Die „Absolutheit“ des Evangeliums heißt nicht: Hier ist die Gestalt menschlichen Sprechens über Gott gefunden, über die hinaus keine bessere mehr gedacht werden kann; sie heißt vielmehr: Hier hat Gott sich selbst dem Menschen endgültig und bindend zugesagt, so daß eine Zusage, die das in Christus Ereignete überträfe, oder aber eine Aussage oder ein Geschehen, die diese Zusage rückgängig machten, nicht mehr möglich sind.

Schon beim Menschen ist es doch so: Er ist größer als alle Worte und alle Zeichen, in denen er etwas von sich aussagt und zu erkennen gibt; er ist in allem, worin er sich mitteilt, zugleich entzogen, weil er mehr ist, als er sagen und zeigen kann. Und doch kommt er selbst vor in dem, was er von sich sagt und zeigt; ja er hat die Möglichkeit, hinter einem solchen begrenzten Wort oder Zeichen endgültig und ganz als er selbst zu stehen, darin sich zu binden, sich auszuliefern. Die begrenzte Aussage kann Stätte seines grenzenlosen Sich-Schenkens, seiner totalen Zusage werden – und dann enthält diese endliche Aussage unendlich viel mehr als nur das, was sie aussagt, sie enthält ihn selbst, den sie zusagt. Jesus Christus aber wird vom christlichen Glauben verstanden als solches umfassendes Sich-Geben Gottes. Gott, der größer ist als die geschichtliche Gestalt Jesu, größer als jedes Wort der Offenbarung und alle Inhalte der Offenbarung zusammen, ist selbst doch ganz da in Jesus Christus und in dem Wort, durch das er den Vater offenbart.

Die endgültige Wahrheit, die in Jesus Christus offenbar ist, heißt gerade, daß Gott sich verschenkt, sich gibt; sie heißt somit nichts anderes, als daß Gott sich ausliefert an die Endlichkeit und in die Endlichkeit, daß also in einer endlichen Gestalt der unendliche göttliche Ursprung aufgeht, ohne daß diese Gestalt dadurch aufhörte, endliche Gestalt zu sein. So abstrakt und philosophisch das klingen mag, wer versteht, wie paradox und wie menschlich zugleich es doch ist, daß ein einziges Jawort das ganze Leben zweier Menschen binden und aneinander schenken kann, der hat im Ansatz verstanden, worum es hier geht.

Wer aber die Zusage zweier Menschen und ihren unbedingten Rang versteht, der hat freilich damit schon eine Fülle anderer Sachverhalte mitverstanden: den Menschen als freies, als dialogisches, als die Zeit überspannendes Wesen, als Wesen, das gerade im Sich-Geben es selber wird. Eine Fülle von Aussagen ist in die Zusage eingefaltet. Nicht anders ist es allerdings auch im Falle des sich in Jesus Christus zusagenden Gottes. In der Tat läßt sich aus dem einen Ereignis der Selbstzusage Gottes in Jesus im Ansatz die ganze christliche Theologie und Anthropologie gewinnen: das Verständnis des dreifaltigen Gottes und das Verständnis menschlicher Geschichte, die sich erst im Handeln Gottes vollendet. Die endgültige Zusage Gottes schwebt nicht beziehungslos über dem, was sich von Gott, dem Menschen und der Welt aussagen läßt. Eine Verkürzung der Endgültigkeit christlichen Glaubens auf einen bloßen Glaubensvollzug ohne Inhaltlichkeit ist daher bares Mißverständnis. Das sich durch den Rekurs auf den Ausdruck „Zusage“ klärende Ärgernis an der Endgültigkeit christlicher Wahrheit hört dadurch nicht auf, Ärgernis zu sein.

2.2 Keine unvoreingenommene Erklärung neutestamentlicher Aussagen oder anderer ursprünglicher Zeugnisse christlicher Tradition kommt daran vorbei: Gott selbst hat sein letztes, unüberholbares, die ganze Menschheit einbegreifendes Wort in Jesus gesagt. Und doch fällt ebenso auf, daß diese eine Botschaft von Anfang an in einer Vielgestalt von Aussageweisen präsent würde. Die eine Botschaft des Neuen Testaments verfaßt sich in vielerlei Theologien. Wie kommt es dazu?

Die eine Botschaft wird Menschen in verschiedener geistiger, gesellschaftlicher, geschichtlicher Situation gepredigt. Sie wird als Erfüllung menschlichen Erfahrens und menschlicher Erwartung verkündet, als Erfüllung freilich, die alle Erwartungen kritisch zurechtrückt und unendlich überbietet und doch den Menschen direkt und genau in seiner besonderen Situation anspricht: [22] Gott schenkt sich dem Menschen, wo dieser ist und wie dieser ist. Verkündung schließt nicht nur methodisch, sondern fundamental den Dialog mit dem Menschen ein: Der Gott, der aus seiner eigenen Souveränität den Menschen angeht und anspricht, antwortet zugleich dem Menschen, kommt ihm entgegen, bezieht sich auf ihn; insofern: relativiert sich auf ihn. Das ist kein Zugeständnis, sondern eine Notwendigkeit, wenn anders Gott sich überhaupt dem Menschen schenken will. Woher als aus menschlichem Fragen und Suchen sollten die Worte gewonnen werden, in denen Gott dem Menschen seine Zusage verständlich macht? Dieser Dialog Gottes mit dem Menschen erschließt allerdings auch den Dialog der Menschen untereinander; die Zusage Gottes, die allen Menschen gilt, öffnet im Ansatz die verschiedenen Weisen menschlicher Aussage zueinander: sie können in der einen Zusage Gottes miteinander Gemeinschaft haben. Elementares Zeichen in der Geschichte der ersten Christengemeinde: sie ist Gemeinde aus Juden und Griechen.

Gottes Zusage hat, sich übersetzend und entfaltend in die vielen Gestalten menschlichen Denkens, Fragens und Sagens also durchaus ihre Geschichte, und diese Geschichte kann nur die des Dialogs mit diesen Weisen des Denkens, Fragens und Sagens sein. Diese Geschichte steigert nicht, überholt nicht und erst recht relativiert nicht die Endgültigkeit der Offenbarung, und doch ist sie kein bloßer Zusatz zu ihr, sondern nur die Entfaltung ihrer Fülle. Denn erst im Durchgang durch alle Frage- und Ausdrucksweisen menschlichen Denkens wird sichtbar, wie tief alles Menschliche eingeholt und bejaht ist in Gottes Ja, das er ein für allemal gesprochen hat.

2.3 Wenn der dialogische Umgang mit den vielen Weisen menschlichen Denkens und Sagens den Christen erst die Fülle dessen erfahren läßt, was die Zusage Gottes in Jesus ihm eröffnet, so bleibt indessen die Frage offen: Wo ist die Basis der Gleichheit in solchem Dialog?

Die Antwort ergibt sich auf einem scheinbaren Umweg: Theonomie und Autonomie, d.h., daß Gott Allgrund und Allherrscher ist und doch mit Selbstsein begabte Geschöpfe „neben“ sich sein läßt, ist christlich kein Widerspruch. Gott wird gerade darin als die erste und alles vermögende Ursache offenbar, daß er anderes Ursache sein, selbständig sein läßt. Schöpfung ist nicht Attrappe oder Kostüm Gottes, sondern sein Gegenüber; der Mensch nicht Marionette in der Hand Gottes, sondern sein Bild, sein Partner. Gottes erlösendes Handeln in Jesus bezieht den Menschen und die Welt in den göttlichen Bereich mit ein – und gibt gerade darin Welt und Mensch an sich frei, gibt ihnen Eigenständigkeit, Autonomie.

Daraus folgt eine fundamentale Unbefangenheit des Christen gegenüber allem, was ist. Das christliche „Vorurteil“ ist das Vorurteil der Liebe Gottes, die alles sein läßt, was es ist. Dieses Vorurteil setzt den Christen gerade instand, „vorurteilslos“ auf die Phänomene zuzugehen. Damit aber ist eine Basis erreicht, auf der sich alle gleich zu sein vermögen. Der Christ kann sich direkt und ohne Rückgriff auf Prinzipien und Maximen, die anderen unverständlich sind, an den Sachen orientieren. Er ist nicht der Meinung, weil er um die unbedingte und endgültige Zusage Gottes weiß, wisse er auch alles, was über die Verhältnisse des Menschen und der Welt auszusagen sei. Gewiß setzt ihm Gottes Zusage kritische Maßstäbe gegen Verkürzungen oder Übertreibungen in der Beurteilung der Phänomene; doch dies trübt nicht, sondern schärft seinen Sinn für das, was diese von sich her zeigen. Und da jede Weltanschauung vom Hinschauen auf die Welt, vom Sehen dessen, was ist, mitbestimmt wird, kann der Christ auch von seinen Dialogpartnern dazulernen: Im Gespräch lernt er, das Feld der Welt und des Menschen tiefer und umfassender zu sehen. Der Kontext der Zusage Gottes, ihre Resonanz, ihre Reichweite, ihre Möglichkeit, sich zu artikulieren, erweitern sich ihm.