Wahrheit und Liebe – ein perichoretisches Verhältnis
Theologischer Ausblick auf das perichoretische Verhältnis von Wahrheit und Liebe
- Alttestamentliche Hinweise
Die Selbstoffenbarung Gottes im Alten Testament, die Aufdeckung der Nichtigkeit, der Un-Wahrheit der Götter und der Wahrheit des einen Gottes, der Himmel und Erde geschaffen hat, ist unlöslich verbunden mit dem Geschehen der Erwählung, Konstitution und geschichtlichen Führung des Volkes, das Jahwe zu seinem Volke macht (vgl. z. B. Ex 2,23–25; 3 und 4; 19 und 20; Dtn 4–11; Jes 40–55 im ganzen). Die Liebe Jahwes zu seinem Volk ist der weltgeschichtlich und heilsgeschichtlich entscheidende Ort der Offenbarung seiner Wahrheit. Seine Wahrheit fällt geradezu ineins mit der Verlässlichkeit seiner Bundestreue, seiner Liebe zum Volk. Die Wahrheit des einzigen Gottes trägt in sich, umfängt und umfasst die Treue Jahwes zu seinem Volk. Die Fügung und Führung der Geschichte seines Volkes ist umgekehrt der Raum, in dem Gott als der Eine und Wahre präsent ist in der Geschichte und sich der Weltgeschichte präsentieren will. Die Perichorese der von Gott geführten Geschichte des Volkes Israel und der Selbstoffenbarung Jahwes ist im Ansatz Perichorese von Wahrheit und Liebe.
[116] Diese Führung und Offenbarung geschehen als Geschichte des Bundes. Bund aber heisst: Jahwe trägt das Volk in seinem Herzen – das Volk trägt Jahwe in seinem Herzen. Der Treue Jahwes zu seinem Bund entspricht nicht nur die Treue des Volkes zu Jahwe, deren Grundlinien im Bundesgesetz, in den Zehn Geboten niedergelegt sind; diese Zehn Gebote selber umfassen die Gleichung zwischen der Treue des Volkes zu seinem Gott und der Treue im gegenseitigen Verhältnis der Volks- und somit Bundesgenossen (vgl. Ex 20,1–21; Dtn 5,1–22).
Jesu Reduktion des Gesetzes auf das Gebot der Gottesliebe und das ihm gleiche der Nächstenliebe entspricht dem Grundgehalt des Gesetzes auch von diesem selbst her (vgl. Mk 12,18–27 parr.). Die Wahrheit, dass Gott, dass er jener Gott ist, der dieses Volk hält und trägt, und dass Israel sein Volk ist, kann nur in solch doppelter Liebe zur Geltung kommen und beglaubigt werden: in der Liebe zu dem einen Gott und in der Wieder-holung des Verhältnisses zu diesem Gott im Verhältnis zueinander, in der Ehrfurcht und Treue, mit denen die Genossen dieses Glaubens zueinander stehen (vgl. Mi 6,1–8).
So ist schliesslich der Jahwe-Name selbst Besiegelung dieses Ineinanders von Wahrheit und Liebe. Jahwe, der „Ich-bin-Da“ (vgl. Ex 3,14) „ist“ nichts anderes als eben: dazusein, in der Zuwendung zu seinem Volk und durch es zur Menschheit sich als der alle Welt und Geschichte Überragende zugleich in sie einzulassen. Der „funktionale“, besser: geschichtliche Charakter dieses Gottesnamens ist von sich her „ontologisch“, trifft die innerste Wahrheit Gottes in sich selbst. Diese innerste Wahrheit Gottes in sich selbst aber kann nur ergriffen, geglaubt, eingelöst werden im Mitwandern mit diesem Gott, in der Treue und Liebe zu ihm, die Treue und Liebe der Volksgenossen zueinander einschliesst.
In der so anderen Denk- und Begriffswelt des Alten Testamentes gegenüber jener aristotelisch-thomistischen oder phänomenologischen, in denen sich unser philosophisches Nachdenken aufhielt, führen die Spuren doch ins Selbe; nur in einem perichoretischen Ineinander können Wahrheit und Liebe je als sie selbst verstanden werden, zeigen Wahrheit und Liebe ihre Relevanz sowohl für das philosophische Denken wie für den Glauben.
- Neutestamentliche Hinweise
Perichorese von Wahrheit und Liebe heisst neutestamentlich: gegenseitiges Enthaltensein und Sich-Durchdringen von Selbstoffenbarung Gottes und Selbsthingabe Gottes in Jesus Christus und dem von ihm mitgeteilten Geist. Es gibt keine andere Wahrheit als die Liebe Gottes, die sich in Jesus Christus zugleich offenbart und hingibt. Die Liebe Gottes, die auch den eigenen Sohn nicht schont, sondern ihn für uns dahingibt, ist die neue und ganze, endgültige Wahrheit schlechthin (vgl. Röm 8,31–39). Nur wer Gott liebt, erkennt Gott (vgl. 1 Joh 4,8 und passim in 1 Joh). An Gott glauben, seine Wahrheit erkennen aber heisst: an seine Liebe glauben, sich von ihr zur Liebe bewegen lassen (vgl. 1 Joh 4,16). Diese mit unterschiedlichen Farben sich doch entsprechende paulinische und johanneische Sichtweise steht nicht im Gegensatz zu den anderen Theologien innerhalb des einen Neuen Testamentes; diese vielerlei Theologien sind vielmehr unterschiedlich ge-[117]prägte Weisen, wie die eine Botschaft sich begründet, verfasst und entfaltet. Die Gottesherrschaft als das in Jesus Christus sich ereignende endgültige Offenbarwerden des Gottseins Gottes, das Gnade und Gericht zugleich bedeutet, dessen Sinn aber die Einladung zum Heil und dessen Weg Jesu heilbringendes Sterben, sein Sich-Einsmachen mit uns in Tod und Gottverlassenheit ist, prägt die synoptische Botschaft, zumal Markus und Matthäus. Die neue und ins Ganze der Menschheit drängende endgültige Wahrheit Gottes als jene vom grenzenlosen Erbarmen, das äusserste Erbarmen als die Aufdeckung der Wahrheit Gottes und des Menschen sind lukanischer Akzent.
Kehren wir zu Johannes zurück: In der Liebe bis zum Äussersten, in welcher Jesus, der eins ist mit dem Vater, sich bis zum Tod am Kreuz entäussert, wird die Wahrheit Gottes offenbar, die Liebe ist, und diese Wahrheit wird ganz nur in einem Glauben ergriffen, der auch seinerseits Liebe ist (vgl. Joh 13–17 im ganzen). Er ist im Vater und der Vater ist in ihm – so teilt der Vater sich uns mit. Diese Perichorese zwischen Vater und Sohn eröffnet sich in der Liebe des Sohnes, die uns ganz und gar in sich hineinnimmt und sich uns ganz und gar anheimgibt: Perichorese zwischen dem Sohn und uns, die in ihm und ihn in uns sein lässt (vgl. Joh 14,20 und 15,1–8). Solches Sein in ihm und durch ihn in seinem Verhältnis zum Vater aber erfordert unser gegenseitiges Innesein ineinander, in welchem sein Innesein im Vater und das des Vaters in ihm sich zwischen uns wiederholt, als Teilhabe an seinem dreifaltigen Leben, aber auch als Zeugnis der Glaubwürdigkeit für die Welt (Joh 17,20–23). Wir können den Zusammenhang der drei „Perichoresen“ (Vater und Sohn, Sohn und wir, wir gegenseitig) nicht anders denn zugleich als den Weg der Wahrheit Gottes und den Weg seiner Liebe verstehen.
Die phänomenologisch an der Wahrheit und an der Liebe als solchen abgelesenen Momente tragen sich in den Weg und die Gestalt dieser johanneischen Perichoresen ein.
- Der theologische Inbegriff der Perichorese von Wahrheit und Liehe: das Kreuz
Wir haben im Blick auf die Schrift nur eine Landkarte, nicht aber die Landschaft gezeichnet, in welcher Wahrheit und Liebe ineinander wohnen, sich unterscheidend sich gegenseitig bestimmen und darin miteinander eins sind. Ein Bild aber, das nicht irgendeines, sondern die Vermittlung schlechthin, das Ereignis schlechthin bezeichnet, sei abschliessend uns vor Augen gestellt: das Kreuz oder besser der Gekreuzigte. Wer glaubend ihn sieht, der sieht die Grösse und Heiligkeit Gottes, der keinen „harmloseren“ Weg wählte als jenen, der die ganze Wahrheit sichtbar macht: die Wahrheit der göttlichen Heiligkeit und der Schrecklichkeit der Sünde, die Wahrheit Gottes und des Menschen. Diese Wahrheit wird aber deswegen vor uns aufgerichtet, weil in ihr die Liebe erscheint und sich ereignet, die solche Wahrheit übernimmt und verwandelt: Die Wahrheit des in sich selber scheiternden und ohnmächtigen, ausgelieferten Menschen ist die Wahrheit des angenommenen, geliebten, von Gott selbst bis ins Äusserste begleiteten und aufgefangenen Menschen. Die Wahrheit des heiligen und grossen Gottes ist die Wahrheit dessen, der [118] sich selber bis ins Letzte, bis ins Gegenteil seiner Selbst hinein loslässt und hingibt. Nur durch diese radikale Liebe, die in jener radikalen Annahme der Wahrheit besteht, durch welche die Wahrheit in sich selber verwandelt wird, erreichen wir das Heil und die Heilung des Menschen, die neue österliche Wahrheit: den Menschen, auf dem die Herrlichkeit Gottes ruht, den angenommenen, erlösten, befreiten Menschen – den Gott, der den Menschen in sich nimmt, ohne ihn in sich auszulöschen, der verherrlicht ist im Lebenkönnen des Menschen. Wer Gott sehen will, muss den Menschen schauen, wer den Menschen sehen will, muss Gott schauen. Dies tut die Liebe, dies ist ihre neue Wahrheit. Im Kreuzesgeschehen ist der durch die Selbstbehauptung des Menschen zwischen Wahrheit und Liebe geratene Hiatus geheilt, die Wahrheit hat das Gesicht der Liebe, die Liebe hat die Geltung und Würde der Wahrheit.
Können Theologie, Pastoral, ökumenischer Dialog anders gelingen denn als „Perichorese in der Kreuzform“, die den Hiatus in sich nimmt und durchleidet, bis die Gestalt der Wahrheit Liebe und die Gestalt der Liebe Wahrheit geworden ist?