Die Frömmigkeit des „Winter in Wien“
Treue zur Konstellation: das Gebet
Natürlich ist die Konstellation da in dem Wort, das sie bezeugt, indem es die eigene Not bezeugt und sich über sie hinausspielt in jener „gewissen Freude“ an den Seifenblasen. Aber bei der Frage nach dem, was bleibt in der Katastrophe des „Winter in Wien“, fällt eine andere Weise, die Konstellation, den schmerzlichen Zusammenhang, zu bestehen, besonders schwer ins Gewicht. Jener, der – Grenzwert des Wissens um Fügung, ja Ruf – den „Verdacht“ hegt, „dasein zu müssen als Vorbote des Entsetzlichen, gegen das keine Warnung und keine Bitte hilft“ (277), [116] er weiß solche Botenschaft des Sehens, Sagens und Leidens verknüpft mit einem anderen Auftrag, einem anderen Muß: „Man muß beten, auch wenn man es nicht kann. Ich kann sehr wohl beten für andere, die Priester, Forscher, Staatsmänner, die Völker, die Kreatur, die Erde; für die Kranken zuerst, wie es sich versteht, und für die Toten; das ist die stille Bestätigung eines rätselvollen Zusammenhangs. Ich habe ein tiefes Bedürfnis danach; es ist das, was mich hält, was mich morgens in die Kirche ruft; für mich kann ich nicht beten; und des Vaters Antlitz hat sich ganz verdunkelt; es ist die schreckliche Maske des Zerschmeißenden, des Keltertreters; ich kann eigentlich nicht ‚Vater‘ sagen“ (119). Und hernach gar spricht dieser Text vom Gebet des Aurel und Epiktet, die nicht an die Unsterblichkeit glaubten (vgl. 119). Dreifacher Limes des Betens: Beten nur für die anderen – Beten, dem die Grundanrede des Gebetes erstirbt, da der Angeredete sich verbirgt, ja verstellt – Beten, ohne der Ankunft dort sicher zu sein, wohin das Gebet doch trägt, Beten über den Abgrund eines verzehrenden Endes hinaus. Und doch: Beten auch und gerade für die Toten. Gebet als „stille Bestätigung eines rätselvollen Zusammenhangs“: wie könnte das Bleiben der Konstellation, wie könnte die Verpflichtung dieser Konstellation für den Menschen tiefer zum Ausdruck kommen? Und alle Pole sind drinnen: Gott und die anderen und die Kreatur und die Geschichte und das Ich. Sie gehören zusammen, auch wenn sie, jeder Pol für sich selber, hinwegbrechen, hineinfallen in sich und den je anderen Polen sich entziehen. Wie sehr ist Geschichte da, gegenwärtig, wenn jene im Gebet da sind, die nicht mehr da sind! Ja, Gebet ist jener Geschichtsraum, jener Beziehungsraum, in dem alle Pole und mit ihnen das Ganze „bleiben“.
Wo aber das Gebet bleibt, da heißt das Grundwort „für“. Reinhold Schneider bleibt das Beten als Beten für … Die beiden Notizen über marianisches Rittertum (vgl. 168f.) und über die Heilsarmee (vgl. 254) sind verstärkende Randglossen zu diesem Grundwort des Betens, ja des Christlichen überhaupt.
Freilich gilt – die zuerst bedachte Aussage Reinhold Schneiders setzt dies schon ins Licht – das strukturale Gesetz der Reduktion auf den verlöschenden und zugleich um so mehr leuch- [117] tenden Grenzwert auch für das Gebet. Man müßte in unserem Kontext die „Räumlichkeit“ des Gebetes eigens würdigen, das Reinhold Schneider in die Kirchen Wiens führt. Räumlichkeit der scheuen, mitunter verzehrenden Distanz, der im Raum von Gemeinschaft nur um so erschreckender erfahrenen Einsamkeit (nicht nur der eigenen!, vgl. etwa 283). Beten als Überforderung, Gebet als bis ins Unerträgliche überdehnter Zusammenhang, Gebet in der Dosis und Gestalt des Letzten: „Wie fern ist der Priester am Altar der Universitätskirche! Ich bleibe zwischen den gedrehten Säulen der Distanz nicht gewachsen. (…) Zu beten nur noch aus Not um die Welt: das ist bereits die letzte Form der Frömmigkeit“ (190).
Auch der Selbstwiderspruch als erhaltendes und weitertreibendes Moment des „immer noch“ und „gerade noch“ gehört, parallel unserer Beobachtung an den Polen der Konstellation, zum Vollzug des Gebetes. Aber dieser Selbstwiderspruch erfährt hier einen Umschlag über sich hinaus, er eröffnet einen neuen und umgreifenden Zusammenhang, den es nachfolgend zu bedenken gilt: „Beten über den Glauben hinaus, gegen den Glauben, gegen sich selbst, einen jeden Tag den verstohlenen Gang des schlechten Gewissens zur Kirche – wider sich selbst und wider eigenes Wissen –: solange dieses Muß empfunden wird, ist Gnade da; es gibt einen Unglauben, der in der Gnadenordnung steht. Es ist der Eingang in Jesu Christi kosmische und geschichtliche Verlassenheit, vielleicht sogar ein Anteil an ihr: der Ort vor dem Unüberwindlichen in der unüberwindlichen Nacht. Ist diese Erfahrung aus der Verzweiflung an Kosmos und Geschichte, die Verzweiflung vor dem Kreuz, das Christentum heute? (Ich habe nur Fragen, eine Ahnung des Leidens, des herrscherlichen, das alle Dimensionen übersteigt.) Und dieses Muß, dieses dunkle, ohne Furcht vor dem Tod, eine Art ,kleiner Passion‘, könnte noch eine Verheißung sein: numen adest“ (261).