Proportio aequalitatis – eine Erwägung zu Bonaventura, Itinerarium II 6
Trinitarische Radikalisierung
Um uns an diese „Evidenz“ heranzutasten, begeben wir uns einen Augenblick lang in einen für Bonaventuras Denken wichtigen anderen Zusammenhang. Er wird thematisch entfaltet in der Collatio XI seines Hexaemeron. Es geht da um das Vollkommene. Die Intuition eines Maßstabes, an dem je schon alles sich bemißt und der das Absolutum in jedem Mehr oder Weniger entzieht und zugleich präsent setzt, ist der Hintergrund des bonaventuranischen Nachdenkens über das Vollkommene. Diese hat für Bonaventura nun das Wesensmerkmal, ganz in sich selbst zu sein und zugleich ganz sich äußern, mitteilen, überschreiten zu können. Vollkommenheit ist zunächst also vollkommene Ursprünglichkeit. Vollkommenes ist nur dann vollkommen, wenn es sich, ohne sich von sich selber zu trennen, in völliger Gleichheit zu sich selbst hervorzubringen vermag – ein Postulat, das Bonaventura trinitarisch, in der Zeugung des gleichewigen und gleichwesentlichen Sohnes durch den Vater, erfüllt sieht.1 Zur Vollkommenheit gehört aber auch jene der Ordnung: Vollkommenheit ist ein Weg, [208] der in sich selber bleibend darin dennoch Anfang, Mitte und Ende durchläuft und sich so makellos in sich selber schließt2, Koinzidenz von Ruhe und Bewegung, von Fluß und Gestalt – Bonaventura verweist wiederum auf die Trinität. Vollkommenheit ist schließlich vollkommene Einheit3: Bonaventura durchmißt unterschiedliche Weisen von Einheit und stellt fest, daß keine bloß „einfache“ Einheit vollkommen ist, sondern daß nur trinitarisches Auseinander, Zueinander und Ineinander die Vollkommenheit, Unzerreißbarkeit und in sich selber waltende Helle von Einheit vermag.4
Was hat dieser Gedankengang mit unserer Erwägung über die proportio aequalitatis zu tun?
Lesen wir den knapp benannten Zusammenhang von unten, vom Ereignis des Genusses her. Jenes aufleuchtende Maß der absoluten Entsprechung, das in der Erfahrung des Genusses anwesend ist, übertrifft dieses sein es offenlegendes Ereignis doch zugleich unendlich. Die Präsenz des unendlichen Maßes im ästhetischen Ereignis ist zugleich über seine endliche Verwirklichung hinausführender Verweis. Beide Seiten müssen zugleich ernstgenommen werden. In den Ziffern 8 und 9 des Kapitels II von Itinerarium schlägt Bonaventura selbst die Brücke: Die Erzeugung des wirkenden Bildes, das im Wahrnehmenden den Genuß und die Entsprechung auslöst, durch das Seiende ist, in dem Genuß des Wahrnehmenden ankommend und ihn erbildend, nicht nur Indikativ, sondern Optativ eines un- endlichen, „ganzen“ Genusses. Darin aber ist der Optativ wieder Indikativ. Bonaventura erblickt, in Entsprechung zu Hexaemeron XI, in der Erzeugung des die Konvenienz mit dem Genießenden ermöglichenden Wirkbildes das Abbild der Zeugung des Sohnes durch den Vater in der Trinität. Dies ist ihm Hinweis auf eine völlige Selbstmitteilung und ein völliges Einswerden mit dem anderen, Verweis auf eine Seligkeit, in welcher sich das in sein ganzes Maß erfüllt, was schon als gestaltendes Ziel in jeder Lust, in jedem Genuß, somit aber auch: in jedem Seienden wirksam ist.
Die Koinzidenz des beglückten Eintreffens des grenzenlos Schönen im Hier und Jetzt mit seiner ihm immanenten Verheißung der Steigerung und Erfüllung, das Ringen um die je größere Vollendung in der gänzlichen Ebenbürtigkeit der Pole von Beziehung gehört zur Phänomenalität des Ästhetischen hinzu, wenn wir es längs jener Fährte lesen, die Bonaventura aufspürt.