Unterscheidungen

Überlegungen zu einer „Phänomenologie des religiösen Vollzugs“*

Wie können Eigenart und Eigenständigkeit religiösen Vollzugs sich dem Denken erschließen? Die Haltung des Denkens, die hier erfordert ist, kann nicht im Deduzieren oder Konstruieren bestehen. Es geht nicht darum, aus unzweifelhaft wahren Elementen eine Konstruktion zu erstellen, an deren Ende herauskommt: religiöser Vollzug kann sein und muß sein. Vielmehr muß das Denken sich freigeben in jene Offenheit, in der sich ihm alles von sich her zeigen darf als das, was es ist. Es muß sich zurücknehmen und ausweisen zugleich. Es muß sich zurücknehmen aus dem apriorisch bescheidwissenden Umgang mit allem, der Neues nur vergleichend ins Gewohnte subsumiert, es muß seine schon fixierten Koordinatensysteme zurücknehmen, in die es Begegnendes definierend einordnet. Gerade solches Zurücknehmen erfordert freilich auch, daß das [57] Denken sieht: alles, was immer ihm begegnet, begegnet ihm in einem Kontext von Bedingungen der Gegebenheit und Verstehbarkeit. Nun aber geht es gerade darum, diesen Kontext vom Begegnenden her zu sehen und zu verstehen, ihn dem Begegnenden neu anzumessen, ihn vom Begegnenden her verwandeln zu lassen. Darin geschieht die Ausweitung. Das Denken weiß nicht, was ihm in solcher Anmessung ans Begegnende, in solchem Eingehen aufs Begegnende an ihm selbst widerfährt, Denken öffnet sich in unabsehbare neue Weisen seiner selbst hinein. Ein solches Denken läßt sich phänomenologisch nennen, phänomenologisch freilich in einem besonderen Sinn: Das Denken selbst reflektiert sich, indem es seine Bedingungen fürs Erscheinen des Erscheinenden reflektiert, sie aber vom Erscheinenden her reflektiert und somit neu von ihm „bedingen“ läßt.1

Das Denken möchte, in solcher phänomenologischen Grundstellung, einfach zuschauen, dem zuschauen, was sich ihm zeigt, darin aber auch sich selbst zuschauen. Wäre indessen nicht gerade solches bloße Zuschauen Verfremdung und Aufgabe seines Ansatzes, den es im Zuschauen und um dessentwillen es das Zuschauen gewählt hat? Gibt es nicht Phänomene, die sich gerade dadurch verfremden, daß man ihnen „bloß zuschaut“? Dies gilt beispielsweise von der persönlichen Begegnung – und gilt es schließlich nicht noch mehr vom religiösen Vollzug? Zuschauen erfordert also, um das wirklich zu sehen, dem es zuschaut, das Sich-Einlassen. Sich einlassen in der Ordnung des Zuschauens heißt zunächst: mitspielen, will sagen: sich einschwingen in die Daseinsweise, die dem Aufgang des Phänomens angemessen ist. Das hat indessen eine Voraussetzung, die nicht selbstverständlich und in ihrer Konsequenz sogar problematisch ist. Denn: Kann man auf allen Hochzeiten tanzen? Verfehlt man so nicht eben gerade „seine“ Hochzeit? Gibt es nicht Phänomene, Daseinsvollzüge, die dann, wenn ich sie nur mitspiele, wiederum gerade nicht sind, was sie sind? Zuhöchst trifft das wiederum zu auf „Religion“.

Um es genauer zu sagen: Eine Phänomenologie, die durch das „Mitspielen“ mit allen Phänomenen ihnen gerecht zu werden [58] wähnt, setzt voraus, daß dem Denken der Zugang zu allen Phänomenen „möglich“ ist, die Phänomene werden Möglichkeiten des Denkens. Mitspielen erzeugt ja aus sich selbst, was sich ihm zuspielt, verwandelt es in eigene Möglichkeit. Dann aber erscheint leicht die Wirklichkeit des Mitgespielten als der Vollzug der im Denken geborgenen Möglichkeit. Die entscheidenden Phänomene des Daseins aber sind jene, die man nicht „machen“ kann, die sich nicht in die Allgemeinheit von Möglichkeit verwandeln lassen, sondern deren Möglichkeit sich aus der unableitbaren und unherstellbaren Wirklichkeit ihres Ereignisses erzeugt. Der scholastische Satz von der Erzeugung der Möglichkeit aus der Wirklichkeit ist radikaler wahr, als es gemeinhin – auch scholastisch – erscheint. Mitspielen, bloßer Vollzug der Möglichkeit, das meint: So etwas ist „immer wieder“, so etwas ist möglicherweise möglich. Es gibt aber solches, das „nur einmal“ möglich ist, nur einmal, das will sagen: Ich kann das Einmal, das ich selber bin, nicht draußen lassen, ich kann, was ich da vollziehe, nicht als Rolle verstehen, die sich aufführen läßt, das, worum es hier geht, ist vielmehr so sehr einmal wie mein Leben, das im Tod endet.

Ist dann aber Phänomenologie des religiösen Vollzugs überhaupt möglich? Ist hier nicht die Forderung aufgestellt, das religiöse Zeugnis sei die einzige Phänomenologie der Religion? So ganz von der Hand zu weisen ist dies nicht. Es muß freilich differenziert werden. Das religiöse Zeugnis ist keines für den, der es nur beschreiben will, der aber auf jeden Fall die Entscheidungssituation von sich ausschließt, in welcher ihn das Zeugnis überzeugen darf. In solcher Entscheidungssituation hat er sich noch nicht entschieden, er spielt sozusagen die Entscheidung durch, aber dieses Durchspielen ist mehr als das unverbindliche Mitspielen. Gerade weil es um die Entscheidung geht, gerade weil es das eigene Ich „kosten“ kann, wird die Entscheidung selbst in ihrem Durchspielen nicht vorweggenommen, wird das Ich „draußen gehalten“ – um gegebenenfalls eingebracht werden zu können. In solcher Entscheidungssituation als „Vorgeschichte“ der Entscheidung ist Phänomenologie des religiösen Aktes „möglich"; sie ist möglich als „Vorgeschichte“ des [59] Vollzugs selber – oder aber der Abkehr von ihm. Man könnte von „engagierter“ Phänomenologie sprechen, deren Engagement jedoch gerade aus theoretischer, methodischer Rücksicht unabdingbar ist. Phänomenologie der Religion ist so freilich gerade kein Reservat für „noch unentschiedene Entscheidungswillige“. Da religiöser Vollzug aus je neuer (keineswegs aber aus je ungewisser) Entscheidung lebt, lebt auch seine „Vorgeschichte“ – und also seine phänomenologische „Anschaubarkeit“ in ihm mit.

In der Tat, die theoretische Situation für eine Phänomenologie des religiösen Vollzugs ist eigentümlich. Sie umspannt, sozusagen im Kreislauf, folgende Momente: Das sie konstituierende und leitende Interesse ist, immanent, theoretischer Art: Was ist von sich selber her religiöser Vollzug, wie kann er aus sich selbst her seine Wesensgestalt erschließen? Um dieses theoretischen Interesses willen ist aber das Denken auf eine ästhetische Bereitschaft angewiesen, das, was sich ihm zeigt, in seiner Eigenart mitspielend zu erschwingen, also denkend „anders“ zu sein als angesichts anderer Phänomene und Vollzüge. Die Frage heißt also: Wie geht religiöser Vollzug? Dasjenige, dem das Mitspielen im Fall des religiösen Vollzugs gilt, zeigt indessen an, daß es bloßem Mitspielen sich versagte; es fordert vom Vollzug den Ernst eines unmittelbaren Sich-Angehenlassens. Die Frage lautet also: Geht religiöser Vollzug wirklich, ja geht es überhaupt ohne ihn? Was den einen Schritt dieses Ganges zum anderen weitertreibt, ist die innere „Verantwortung“, ist das Ethos der theoretischen Frage selbst. Dieses Ethos wandelt sich in seinem Vollzug zum Ethos der Entscheidungssituation; als Ethos des theoretischen Fragens aber fordert es zugleich, daß die anfänglich gestellte Frage „theoretisch“ beantwortet wird, daß also nicht allein das Zeugnis, sondern der Aufweis der immanenten Struktur des religiösen Aktes am Ende der phänomenologischen Untersuchung steht. Dieser Aufweis wäre freilich mißverstanden, wo er nur als Wißbares vom Denken eingeheimst würde, er muß es mitnehmen und öffnen in den Weg zur Entscheidung hin, das ist seine von der aufzuweisenden Sache her ernötigte Struktur selbst.

Der zurückgelegte Weg des Gedankens ist keine methodische [60] Selbstgefälligkeit. Er hat es unmittelbar mit der Sache, mit dem religiösen Vollzug zu tun. Dies wird dann deutlich, wenn man die Stufen der Reflexion isoliert und sie dann einzeln auf Religion bezieht. Ist theoretische Religion Religion? Ist Wissen darum, daß es Gott gibt und was er sagt und was darum ihm gegenüber zu tun ist, bereits religiöser Vollzug? Die kritische Abkehr etwa Pascals vom bloßen „Gott der Philosophen“, sein Aufzeigen der „Drei Ordnungen“ gibt schon eine Antwort. So gewiß theoretische Aussagen zur Religion gehören, so deutlich ist doch ihr Abstand vom Zentrum des Vollzuges; man denke an die Differenz nur-theoretischer Gebete, etwa der Dreifaltigkeitspräfation des römischen Missale oder auch des von seiner Funktion her mit Recht so verfaßten Nicaeno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnisses, zu einem Psalm oder dem Magnificat. Die Gefahr „ästhetischer“ Religion, gekonnter Religion, kultivierten Empfindens, dem es um seinen eigenen numinosen Schauer geht und nicht um den harten Bezug der eigenen Wirklichkeit zum wirklichen Gott, begleitet die wirkliche Religion stets wie ein Schatten. Und „nur-ethische“ Religion, Religion als Pflicht und Schuldigkeit, Religion als Perfektion des eigenen Selbst, das vor sich und seiner Norm bestehen können will, ist wiederum eine Zerrform „wirklicher“ Religion. Die Elemente des Theoretischen, Ästhetischen und Ethischen gehören zweifellos mit hinein in die Fülle des Religiösen, aber für sich allein oder in ihrer Addition genommen ergeben sie dieses gerade nicht. Es hat seine eigene Ordnung.


  1. Vgl. hierzu Hemmerle, Klaus: Das Heilige und das Denken, in: Casper, Bernhard/Hemmerle, Klaus/Hünermann, Peter (Hg.): Besinnung auf das Heilige, Freiburg i. Br. 1966, 9–11. ↩︎