Der Begriff des Heils

Übernatürliches Heil?

In der christlichen Überlieferung verbindet sich Heil mit Begriffen wie Erlösung und Gnade. Das Heil, das uns verheißen ist, ist nicht selbstverständlich, es muß geschenkt werden. Und dieses Geschenk ist nicht nur eine Ergänzung dessen, was Mensch und Schöpfung, wie sie sind, mitbringen, um einige Defekte, die sich im Lauf der Geschichte einstellten, wieder zu beheben. Das gnadenhafte, das geschenkte Heil eröffnet eine neue Dimension, in der zwar der Schöpfungsplan eingelöst, aber zugleich überboten, in einen aus ihm allein nicht zu erhebenden Kontext eingefügt wird. Dieser neue Kontext heißt „Übernatur“, Heil ist „übernatürliches“ Heil.

Dagegen aber verwahrt sich der Mensch: sich und seine Welt aus einem Kontext heraus verstehen zu sollen, den er nicht aus der inneren Dynamik seines eigenen Tuns und der immanenten Evolution der Welt erreichen kann. Er findet sich total hineingestellt in seine Welt, sie ist der umfassende Kontext; seine Beziehung zur Welt und in ihr zu sich selbst duldet kein Nebenan. Eine „Überwelt“ erscheint ihm als Hilfskonstruktion, die zweierlei zugleich verdirbt: einmal Ernst und Anspruch der eigenen Freiheit, der es aufgegeben ist, in unbegrenzter Radikalität das, was ist, zu durchschauen, zu bewältigen, zu „leisten“; zum andern Ernst und Anspruch der „Welt“, des Menschen ein- [212] ziger und ganzer Lebens- und Wirkraum zu sein, nicht bloßes „Vorzimmer“ seiner Erfüllung, aber auch kein unbezwingbarer Felsblock, den zu behauen und zu gestalten der Mensch zu schwach wäre, so daß er es getrost einer anderen Instanz überlassen könnte, daraus noch etwas Rechtes zu machen.

Es wäre vorschnell, hier nur von „Hochmut“ des Menschen und nur von der „Verführung“ sich absolut setzender Endlichkeit zu sprechen. Gewiß gibt es ein verengendes Pathos und verstiegenes Ethos des Machens und Könnens. Und doch gehört der Ausgriff des Erkennens und des Wollens aufs Ganze, auf alles, was ist, wesenhaft zum Menschen hinzu; der Mensch kann von innen her, vom Anspruch seines Menschseins her, keine Grenze dulden, über die er fragend, gestaltend, sich verhaltend nicht hinausmüßte – denn er ist schon über sie hinaus. Und umgekehrt ist alles, was etwas ist, was sich ihm zu fragen, zu gestalten, zu verantworten gibt, eben dadurch seine „Welt“. Welt und Mensch stehen in der Beziehung einer totalen Verwiesenheit aufeinander. Weltloses Heil, Heil als Zusatz zur Welt und zum Menschen, Heil, das es nur zu konsumieren gälte, ist kein Heil für den Menschen.

Und doch bleibt in der exklusiven Verwiesenheit von Welt und Mensch aufeinander eine Aporie, die Aporie einer doppelten neuen Entfremdung. Entfremdung des Menschen: der Mensch, der ganz zu sich zurückgekehrt ist, der sich ganz in seine Hand genommen hat und darin die Welt ganz in seine Hand genommen hat, der Mensch, der alles kann und vermag, ist nicht nur seine eigene radikale Selbstüberschätzung, die ihn ziemlich bald für sich selbst unausstehlich oder lächerlich macht; er ist zugleich auf eine totale „Anstrengung“ reduziert, die ihn verzweckt. Der Macher des eigenen Glücks und der eigenen Welt wird zum Konsumenten seiner selbstgemachten Welt und seiner selbstgemachten Menschlichkeit, die ihm je nur zum Kraftfutter fürs neue Machen dienen, dessen Ziel sich ihm in tantalische Unerreichbarkeit hinein entzieht, in ein radikales Jenseits, das nur eines nicht kennt: Lösung, zu sich selbst befreite Freiheit, Verdanken und Beschenktsein. Und gerade dies macht die zweite Entfremdung aus, die Entfremdung der Welt. Wäre sie nicht mehr jenes, das sich gibt, wäre sie reines Produkt, dann verschwänden ihre Würde und ihr Anspruch, das ausschließliche Feld der Wirklichkeit für den Menschen zu sein; denn sie verschwände in den Menschen selbst hinein, wäre seine bloße Projektion, sein bloß zum Verzehr bestimmtes Noch-Nicht, das jeweilige Demnächst seiner radikalen Einsamkeit mit sich selbst.

Mensch und Welt bedürfen dessen, was sie versammelt, was ihnen das „und“ ermöglicht, die Beziehung, die nicht in Reduktion aufgeht. Franz Rosenzweig hat in seinem „Stern der Erlösung“ und auch in seinem „Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand“ von diesem „und“ gehandelt, das in Schöpfung, Offenbarung und Erlösung gewährt ist.

Es geht nicht um einen „dritten Bereich“ neben Welt und Mensch, sondern es geht darum, daß sie einander Kontext zu werden vermögen; sie werden es [213] aber gerade dadurch, daß sie Kontext sind, zu einem Kontext, der sich nicht durch bloße Analyse aus ihnen herausrechnen und darum auch nicht durch bloße Anstrengung oder Entwicklung aus ihnen hervorbringen läßt. Solcher Kontext ist zu denken, wenn von Gnade die Rede ist. In ihr sind Welt und Mensch einander gegönnt, indem die beide einander gönnende Gunst sich selbst ihnen gönnt. Und die Gunst ist nicht ein Minus der Freiheit des Menschen oder ein Minus der Totalität von Welt, ein von beiden abgezogener oder beiden zugesetzter Bereich, sondern gerade ihre Ermächtigung zu sich selbst, das in ihnen, in ihrer „Autonomie“ je Verdankte.