Christliche Spiritualität in einer pluralistischen Gesellschaft

Umschlag des Pluralismus?

Allerdings, Pluralismus ist nicht mehr das letzte Wort in der Entwicklung unserer Gesellschaft, und schon heute deuten viele Zeichen auf eine nachpluralistische Epoche hin. Es sind zumal – wir sprechen hier von unserer westlichen Welt – zwei gegenläufige Tendenzen im Spiel. Die eine läßt sich als radikalisierte Fortschreibung des Pluralismus, die andere als seinen konsequenten Umschlag deuten.

Funktionale Gesellschaft ist progressive Gesellschaft. Jedes Ergebnis von Wissenschaft und Technik, jedes Stadium gesellschaftlicher und kultureller Entwicklung strebt nach einem Fortschritt. Daher darf kein erreichtes Ziel, aber auch keinerlei Erkenntnis den Anspruch auf Endgültigkeit erheben. Wer eine Theorie entwirft, wer ein Modell entwickelt, muß auch schon immer darauf bedacht sein, seine Theorie, sein Modell zu falsifizieren, will sagen, die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit zu erproben, um eine weiterführende Alternative vorzustellen. So etwa läßt sich, vergröbert, der vielbeachtete „kritische Rationalismus“ (Hans Albert) kennzeichnen. Im allgemeinen Bewußtsein ist er gewiß nur eine Strömung neben anderen – und doch artikuliert er das, was heute weithin gelebt wird: die Ideologie, daß es letzte Antworten nicht geben darf, daß letzte Wahrheiten zumindest nicht eingebracht werden dürfen ins gesellschaftliche Handeln. Das Dogma des Antidogmatismus könnte, in letzter Konsequenz, zur Auflösung aller Toleranz führen. Endprodukt wäre der Totalitarismus einer absolutgesetzten Liberalität.

Die andere Gegenbewegung zum Pluralismus scheint dem Christlichen eine neue Chance einzuräumen. Immer [91] mehr Menschen erfahren das bloße Funktionierenmüssen als sinnlosen Leerlauf, als Zwang. Die Kehre nach innen, die Suche nach den Ursprüngen, das Come-back der Sinnfrage zeigen eine neue Richtung an. Meditation, Gemeinschaft, Zusichkommen sind wieder gefragt. Ein notwendiger Ausschlag des Pendels, Bestätigung dessen, daß der Mensch aus Leistung, Konsum, Funktion allein nicht leben kann.

Und doch wäre es vorschnell, dies mit einem religiösen Aufbruch oder gar mit einem Aufbruch zum Christlichen hin in eins zu setzen. Wo Selbstfindung und Selbstverwirklichung der letzte Wert sind, wo der Weg nach innen nur als Methode verstanden wird, um das Funktionierenmüssen besser zu vermögen und besser zu bestehen, wo die Hinkehr zu Gott nur als Einkehr in die Tiefe des eigenen Selbst begriffen wird, da ist die Mitte des Christlichen kaum deutlicher im Visier als dort, wo es ausschließlich als Impuls zu Weltgestaltung und Gesellschaftsveränderung erscheint. Der Weg zu mir, der Weg nach innen ist nicht ohne weiteres schon jener Weg, den das Wort des Petrus bezeichnet: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Der Nachfolgeruf Jesu droht auch in der Welt des Nachpluralismus ein Fremdwort zu bleiben.