Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Umschlag von der negativen zur positiven Philosophie

Abstand und Nähe der positiven Philosophie zum voraufgehenden Denken treten besonders hervor am Übergang von der negativen zur positiven und am Innesein der negativen in der positiven Philoso- [121] phie. Die positive Philosophie setzt dort ein, wo die negative zu Ende ist, und doch ist der Übergang zu ihr nicht das bloße Resultat der negativen. Die negative muß zwar die positive setzen1, wenn anders es ihr um Wissen geht, wenn sie Philosophie ist2. Überschritt zur positiven und Anfang der positiven Philosophie ergeben sich indessen aus keiner immanenten Denknotwendigkeit.

Die Bemerkungen Schellings zum Umschlag in die positive Philosophie lassen sich auf drei Aussagetypen hin formalisieren: Zum ersten erscheint der Übergang zur positiven Philosophie als veranlaßt einfach durch das Bedürfnis des Denkens nach dem Erweis der Wirklichkeit des in der negativen Philosophie Abgeleiteten, aber durch die Erfahrung nicht mehr Verifizierbaren, der Wirklichkeit Gottes also. Dies ist der vor allem in den Vorlesungen vier bis acht der Philosophie der Offenbarung entwickelte Typ. Der Anfang der positiven Philosophie erfolgt dabei allerdings in jenem „Experiment“ des Denkens, das uns bei der Erörterung der Potentialität des Denkens beschäftigte, in welchem das Denken ekstatisch über sich hinaus vor die Undenklichkeit des absoluten Prius gelangte3.

Dieses Experiment ist Sache des – so freilich seine unmittelbare Entwicklung und Fortsetzung, ja sich selbst gerade aufgebenden – reinen Denkens. Es sei hier an den doppelten Charakter des Zugangs zum undenklichen Prius erinnert: es erscheint als „gegeben“4, und zugleich muß man sich zu ihm „entschlossen“ haben5. Ist also auch durch die negative Philosophie der Begriff des schlechthin und nur Seienden dem Denken gegeben, so ist der Ansatz bei diesem unbedingt Gewissen als einem Wirklichen doch ein Entschluß, ungeachtet – oder gerade angesichts – des nicht mehr synthetischen Charakters des Existentialsatzes, der sagt, das reine Daß sei6.

Zum zweiten betont Schelling zu wiederholten Malen, daß die positive Philosophie „für sich anfangen“ könnte, „denn sie geht vom absoluten Prius, von dem durch sich selbst gewissen Anfange aus“7. Es ist dem Denken erlaubt, zu sagen: „Ich will, was über [122] dem Sein ist“8, und sich damit in das reine Daß, in die absolute Voraussetzung einzuschwingen.

Zum dritten erörtert Schelling aber den Übergang von der negativen Philosophie zur positiven ausdrücklich anhand des „praktischen Bedürfnisses“ des existierenden Ich nach dem wirklichen Gott9.

Dieser „praktische Antrieb“10 und die ihm erwachsende Zuwendung zum Andern des bloßen Gedankens selbst ist aber „kein zufälliges, es ist ein Wollen des Geistes, der vermöge innerer Notwendigkeit und im Sehnen nach eigener Befreiung bei dem im Denken “11 Schelling hat zuvor, eingeschlossenen nicht stehen bleiben kann wie später zu zeigen bleibt, diese praktische Trennung des Ich von der Idee, seine isolierte Heillosigkeit selbst hypothetisch im Gang negativer Philosophie abgeleitet. Das so Abgeleitete zu erfahren, gibt dem Ich den Stoß, nun selbst „praktisch“ einen neuen Anfang seines Verhältnisses zu Gott zu setzen, sich mit dem nur gedachten Gott nicht zu begnügen, sondern – wie Schelling sich ausdrückt – „Gott aus der Idee auszustoßen“12. Diese „Ausstoßung“ Gottes aus der „Idee“ ist „die große, letzte und eigentliche Krisis“ der „Vernunftwissenschaft“, die „selbst damit verlassen (verworfen) wird“13. Sie bedeutet, daß das Ich sich mit dem Begriff Gottes nicht begnügt und sich an das „notwendig Existierende“ als neuen Anfang seines Denkens kehrt. Die „Praxis“ solchen Tuns ist also kein Abschied vom Denken, sondern der Umstieg in einen neuen Beginn des nunmehr in neuer Richtung, eben vom Prinzip aus, fortschreitenden Denkens.

Allen drei Artikulationen des Ansatzes zur positiven Philosophie eignet der Charakter des „Entschlusses“, der das bloße Denken übersteigt, gleichwohl aber ins Denken führt.

Zwischen der zweitgenannten Möglichkeit, die sich indessen auch in den beiden anderen Möglichkeiten verbirgt, zwischen einem unmittelbaren Anfang der positiven Philosophie mit sich selbst also, und der von uns im Zusammenhang des reinen Denkens erhobenen [123] Behauptung, es gebe keinen direkten Fortgang des Denkens vom als solchen vorausgesetzten reinen Daß, scheint ein Widerspruch zu bestehen. Er klärt sich jedoch auf, wenn wir fragen, wie, mit welchen Mitteln der Fortgang positiver Philosophie von dem zum Anfang gemachten absoluten Prius aus geschehe. Er geschieht nämlich – aus solchem Ansatz freilich umgewerteten – Mitteln mit den der negativen Philosophie. „Gegen das reine Daß erhebt sich unmittelbar das Denken und fragt nach dem Was oder nach dem Begriff.“14

Die Frage nach dem Was und der Gebrauch des Begriffs sind dem Denken zwar unumgänglich – auch jenem Denken, dem Was und Begriff in die Indirektheit des Verweises zurücktreten oder sich in die Direktheit der Anrede hinein verzehren. Der Aufstand der Was-Frage vor dem reinen Daß ist im Falle der positiven Philosophie jedoch, in der schon bedachten Folge des Selbstverständnisses des Denkens als Potentialität, das Wiedereintreten der negativen, ableitenden Philosophie in den Vollzug der positiven.

Wie gesehen, geht es der positiven Philosophie um die Wiederzuführung des reinen Daß zur Idee, um das Wiedergewinnen des Verhältnisses des Prinzips zum Seienden: das Prinzip soll, nunmehr aber auf freie Weise, sich als das das-Seiende-seiende erweisen15 Die in der negativen Philosophie gewonnenen Begriffe sollen in ihren neuen Stellenwert vermittelt und selbst Mittel des Denkens vom Prinzip her aufs Sein zu werden. Die Vernunft setzt „jenes bloß Seiende (απλώς ὄν) absolut außer sich“; „aber sie setzt es doch nur in der Absicht, das, was außer und über der Vernunft ist, wieder zum Inhalte der Vernunft zu machen … Gott ist nicht, wie viele sich vorstellen, das Transzendente, er ist das immanent (d. h. das zum Inhalt der Vernunft) gemachte Transzendente“16. Die bleibende Stellung der negativen Philosophie nach ihrem Ende, in der positiven Philosophie, erhellt darin, „daß die negative Philosophie die positive setzen muß, aber indem sie diese setzt, macht sie sich ja nur zum Bewußtsein dieser, und ist insofern nichts mehr außer dieser, sondern selbst zu dieser gehörig, also ist doch nur eine Philosophie“17.

[124] Die systematische Einheit der negativen, ableitenden Philosophie mit der positiven, Freiheit, Wirklichkeit, Beziehung als solche angehenden Philosophie trägt die Weise ableitenden Denkens in den Versuch des geschichtlichen, beziehentlichen Denkens wieder ein. Es bestätigt sich ein weiteres Mal: Der Ansatz des Denkens beim Seienden hält sich auch in die positive Philosophie hinein durch.


  1. Vgl. XIII 152. ↩︎

  2. Vgl. XIII 154. ↩︎

  3. S. bes. XIII 155–169. ↩︎

  4. XIII 158. ↩︎

  5. XIII 168. ↩︎

  6. Vgl. hierzu XI 563. ↩︎

  7. XIII 153, vgl. XI 564. ↩︎

  8. XI 564. ↩︎

  9. XI 553–572 im Ganzen, bes. 558, 560, 565, 566, 569. ↩︎

  10. 565. ↩︎

  11. 569. ↩︎

  12. Vgl. 565/66. ↩︎

  13. Ebd. ↩︎

  14. XIII 173. ↩︎

  15. Vgl. XI 570/71. ↩︎

  16. XIII 170. ↩︎

  17. XIII 152. ↩︎