Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Unmittelbarer Zugang: Die Vieldeutigkeit des Denkens in sich selbst

Es geht uns um die Erhellung der Weise des Denkens in Schellings Spätphilosophie. Dies erfordert zum einen, daß wir auf sein ausdrückliches Verständnis des Denkens, zum andern, daß wir auf seine ihm selbstverständliche Art des Denkens, erfordert zum dritten aber auch, daß wir auf das Denken als solches und nicht nur im Hinblick auf Schelling achten.

Mediale Ursprünglichkeit nannten wir den Grundzug, den wir, angestoßen von Schelling, am Denken unmittelbar entdeckten und der uns von unserem Denken her bei Schelling in einer eigentümlich modifizierten Gestalt begegnete. Drei Daten des Denkens müssen bedacht werden, damit es unmittelbar zur medialen Ursprünglichkeit seiner selbst gelangen könne:

  1. Denken ist ursprünglich. Das Gedachte, alles Gedachte, ist nicht nur etwas am Denken, eine Gestaltung des Denkens von einem äußeren Anstoß oder Eindruck her, sondern es ist vom Denken aus sich hervorgebracht. Das Denken kann sich selbst zu seinem Gedachten hin begleiten und verfolgen, insofern seinen Gedanken sich selbst durchsichtig aus sich ableiten.

  2. Das Denken denkt sein Gedachtes nicht, um etwas Gedachtes zu denken, sondern um zu denken, was ist. Denken meint, wenn auch auf vielfältige, ja gegensätzliche Weise, immer „Sein“.

  3. Wenngleich das Denken nie anders als im Bezug auf Sein denken kann und also Denken ist, wenngleich Denken demnach nie nur logisch, sondern darin immer auch ontologisch bestimmt bzw. be- [78] stimmend ist, fallen doch die logische und die ontologische Seite des Denkens nicht einfachhin und fraglos zusammen. Die Identität des Denkens mit dem Sein ist vorgängig Identität des Zeugnisses und erst in der Folge Identität der Hervorbringung. Das Denken ist des Seins mächtig nur unter der Vormacht des Seins. Denken denkt, indem es denkt, sein Gedachtes aufs Sein zu, ist aber nicht aus seinem Denken, sondern weil es als Denken sich je schon aus undenklicher Herkunft gewährt ist, nicht produktiv oder beweisend, sondern verdankend und bezeugend, des Seins und seiner selbst gewiß.

In dieser einend-unterscheidenden Verflochtenheit von Denken und Sein bzw. von logischer und ontologischer Dimension des Denkens ist nun ein weiteres eingeschlossen. Das Denken hat nicht immer, nicht in jeder Hinsicht dieselbe Bedeutung. Was Aristoteles vom Seienden sagt: daß es auf vielfältige Weise ausgesagt werde, das gilt auch vom Denken: Das Denken wird auf vielfältige Weise ausgesagt, es hat verschiedene Anwendungen und Sinne.

Orientieren wir uns, wie wir es bereits übten, zunächst an dem, was der unmittelbare Hinblick aufs Denken uns zeigt, um sodann Entsprechung und Unterschied zu Schellings Aussage an dieser zu bewähren. Welche verschiedenen Grundstellungen des Denkens lassen sich also von dem Befund her vermuten, der uns bestimmte, das Denken als mediale Ursprünglichkeit zu verstehen?

  1. Gewiß wird es eine Ebene der „Logik“ geben, der immanenten Deskription formaler Gesetzlichkeit, welcher das Denken folgt, wenn anders es Denken ist. Und diese formale Gesetzlichkeit wird, dem Ausgeführten gemäß, nicht neben dem ontologischen Bezug des Denkens nur hergehen, sondern ihm selbst Bahn und Richtung weisen; denn die Frage des Denkens, ob es selbst so denken könne, ist ihm zugleich die Frage, ob es so sein könne. Das Denken als Denken in seiner logischen Formalität und „Figürlichkeit“ ist nichts anderes als sein Auslangen nach dem, was ist. Die Frage nach dem, was ist, und darin die Frage nach sich selbst sind in der deskriptiven Logik eingefaltet, nur verborgen anwesend.

  2. Wo das Denken sich an diese Frage als an sich selbst freigibt, wo es fragendes Denken wird, da tritt es in eine andere Grundstel- [79] lung. Natürlich wird seine Frage in den Geleisen laufen, welche die deskriptive Logik festlegt, und wird, um des Ernstes seiner Frage willen, das Denken auch sich selbst, seine Frage, prüfend an die ihm immamenten Gesetze zurück.wenden. Trotzdem wird das fragende Denken mehr und anderes sein als die bloße Nachzeichnung und Vollstreckung immanenter Gesetzlichkeiten.

    Ohne daß sie zu verleugnen wären, werden sie vielmehr dem Denken selbst fraglich, werden sie fürs Denken, das fragend sich von dem, was ist, besser: von Wahrheit und Sein überhaupt, angefordert findet, selbst in eine Mehrdeutigkeit ihrer Anwendung geraten. In seinem Fragen unterläuft das Denken seine eigene formale Eindeutigkeit; der erwähnte aristotelische Satz von der mehrdeutigen Sage des Seins sprengt fürs fragende Denken den Rahmen bloß kategorialer Differenzen und eröffnet eine nie im voraus festlegbare, nie abzählbare Vielzahl von umgreifenden Weisen des Istsagens und also des Denkens, ja des Denkens noch mehr als des Istsagens, vermag doch das Denken auch dorthin zu gelangen, wo es ihm das Istsagen verschlägt, und es dennoch gerufen ist, denkend auszuharren.

    In der Bewegung sich freigebenden Fragens wird das Denken die Erfahrung seiner Pluralität machen, die Pascal etwa im „esprit de finesse“1 berührt und die, anders gewendet, als die Geschichtlichkeit des Denkens, als die Umkehrung des Denkens in die unabsehbaren Stellungen der Partnerschaft der Denkenden in einem Gespräch, auch unserem Denken schon begegnete.

  3. Fragen fragt nicht um des Fragens, sondern um des Erfragten willen. Fragendes Denken gibt uns das Geleit in die unabschließbare Vielfalt von Denkweisen und -gestalten, aber in diesen Denkweisen und -gestalten wird nicht nur gefragt, sondern auch geantwortet, bestimmt, bezeugt, ausgelegt, verstanden, verwiesen. Unbeschadet der unerschöpflichen und unkonstruierbaren Fülle des hier sich darbietenden Sinnes von Denken, dürfen doch Grundrichtungen anvisiert werden, in welche „das“ Denken auseinander tritt und in die es die Einheit seiner Formalität unterschiedlich auslegt.

[80] Wo die Einheit der Formalität (auch sie ist, als nur im Sprechen oder in einer bestimmten Zeichenwelt verfaßte, in sich selbst unabsehbar „geschichtlich“) ihre eigentliche, unmittelbare Anwendung hat, wird das Denken fassendes, begreifendes Denken heißen dürfen. Solches fassende Denken wird sich auf alles beziehen, was oder sofern es in der Beherrschbarkeit, in seiner vorgängigen Konstitution durchs Denken und in seiner Subsumption unter das Denken, sein Wesen hat. Es ist dort an seiner Stelle, wo die Frage des Denkens es auf eine feststellende Auskunft oder Erklärung absieht, absehen kann und darf angesichts dessen, wie es hier gerade angefordert ist.

Überall dort aber, wo das fassende Vermögen des Denkens diesem sein Begegnendes oder das eigene Wesen des Denkens selbst verstellen müßte, wo das Denken oder das Gedachte oder beide einem bloß fassend-ableitenden Zugriff entgingen, ist die einsinnige Anwendung der formalen Struktur des „Denkens an sich“ nicht die Wahrheit des Denkens, ist das Denken also in eine andere Grundweise seiner selbst gerufen.

Fassendes Denken versagt als solches je vor dem anzuredenden Du und vor dem sich zuschickenden, das Denken seinerseits „anredenden“ Ereignis, in welchem jenes fürs Denken zur Gegebenheit kommt, was nie mit denkender Feststellung, Bemeisterung, Objektivierung abzugelten ist. Direkt anredendes, indirekt verweisendes, im Zugleich von Anrede und Verweis verdankendes Denken bieten sich als Namen an für Grundgestalten, in denen hier das Denken geschieht, das diese Grundgestalten selbst aber nicht mehr verfügend leistet und herstellt, sondern vernimmt.

Denken „an sich“, Denken als transzendentale Mächtigkeit gegenständlicher Strukturen, deskriptive Logik also2 – fragendes Denken, Denken also, das seine Strukturen dem fragenden Hinblick aufs Sein anheimgibt – Denken, das sich durch Begegnung und Ereignis in neue Weisen seiner selbst, ins Tun seiner Antwort auf Begegnung und Ereignis zeitigen läßt, „geschichtliches“ Denken also: diese Di- [81] mensionen zeigen sich einer Orientierung des Denkens an sich selbst im Vorblick auf die drei Ebenen, auf denen sich das Denken in Schellings Spätphilosophie findet und entfaltet: reines Denken – rein rationale und negative Philosophie – positive Philosophie.


  1. Vgl. B. Pascal:, Pensées, ed. Brunschvicg, Nr. 1. ↩︎

  2. Dieser Ausdruck ist nicht im spezifischen Sinne Diltheys verstanden (vgl. W. Dilthey, Gesammelte Schriften, V. Band [Stuttgart ^3 1961]: Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie“, 139–237). ↩︎