Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Unmittelbarer Zugang
a) Das reine Daß als Gabe ans Denken
Indem das Denken der Anweisung nachkommt, nichts anderes als Existenz, als Sein schlechterdings und überhaupt zu denken, sich selbst in diesen Gedanken hinein aufzugeben, hat das Denken eben dieses gedacht 1.
Gewiß will Schelling dabei die Frage, was für ein Wesen dieses notwendig und nur Existierende sei, ausgeschlossen wissen2. Als Zusatz zum ekstatischen Gedanken der Vernunft, dem des reinen Daß, muß sie auch abgewiesen werden.
[237] Etwas anderes ist aber die Reflexion der Vernunft darauf, was ihr selber widerfahren sei, da sie solches reine Daß setzte, als was es sich ihr gegeben habe. Nur indem die Vernunft von dem, was sich ihr im reinen Daß gibt, sich selbst wiedergegeben wird, ist ein Ausgang der Vernunft vom reinen Daß möglich, ist sie als Vernunft wiederaufgerichtet – und eben darum ist es Schelling ja zu tun.
Was also gibt sich der Vernunft, indem sie sich außer sich gesetzt findet im Denken des reinen Daß, im Voraus-Setzen der unbedingten Wirklichkeit?
Es gibt sich ihr das Daß als ein gerade nicht bloß gedachtes, als eines, das an sich selbst ist. Kein Prädikat, keine Bestimmung an etwas gibt sich im Gedanken des reinen Daß der Vernunft, sondern das Daß als das von sich her seiende, sich selbst angehörige, eben: an sich seiende. Doch es gibt sich dem Denken so. Es ist zugleich das rein von sich weg aufs Denken Zukommende, nicht nur das sich Inständige, sondern gerade auch das aus sich Heraustretende, der Strahl und Akt seiner selbst aufs Denken zu.
Und es ist in beiden Aspekten doch eines: als aufgehend, von sich weg ins Denken eingehend und es erfüllend, verschwindet es gerade nicht im Denken, sondern hält sich ihm gegenüber an sich selbst durch. Es geht das Denken an und geht nicht in ihm auf, es gehört sich, indem es sich gibt.
Als „das erste eigentliche Objekt des Denkens (quod se objicit)“3 weist es sich ihm in eigentümlicher Selbstzugehörigkeit vor: unzerreißbar eines, vereint es in sich die drei Aspekte, an sich seiend, von sich weg sich gebend und so in sich geschlossen, selbstgehörig, „als solches“ zu sein, und erschöpft sich als es selbst, als reines Daß, doch keinem dieser Aspekte und auch nicht in allen dreien zusammen.
Wofern das Denken eben aufs Daß zurückstößt, ins Experiment der reinen Voraussetzung des Daß eintritt – Anlaß und Grenze dieses Experimentes beschäftigten uns bereits – kommt es an der beschriebenen Urphänomenalität dieses Daß wohl nicht vorbei. Das heißt aber: Die drei Urbestimmungen reinen Denkens kehren dem Denken wieder, hier nicht als „Hypothesen“ des Seienden, sondern [238] als Auslegungen des Daß, als Gewinnung dessen, was die „Hypothesen“ sagten, in der unmittelbaren Begegnung mit „Wirklichkeit schlechthin“.
b) Die Selbstauslegung des reinen Daß ins Denken
Kehren wir das Denken in derselben Begegnung mit dem absoluten Daß nochmals um, lassen wir es selbst dahinein verschwinden – oder gerade darin triumphieren? –, daß es nicht mehr Partner der Begegnung mit dem unvordenklichen Daß ist, sondern in ekstatischer Drehung um seine eigene Achse das reine Daß von diesem her, als dessen „Bewußtsein“, als dessen Erhellung auslegt: Denken als Selbstauslegung des absoluten Daß.
Wir finden sodann dasselbe, was sich in der vorigen Stellung dem Denken gab. Dort gab es sich indessen ins Modell der Gegenständlichkeit, hier erzeugt es die Figur der All-einigkeit, des „all-einigen Geistes“4. Es geht indessen gerade nicht darum, diese Figur zu erzeugen, sondern das reine Daß auszulegen. Das Ergebnis soll also nicht das Wesen des Selbstbewußtseins also solchen, sondern die Erhellung der dynamischen Linien leisten, die der eine und reine Stoß des sich aus sich erhebenden Daß ereignet.
Was sagt also das Denken, das nichts anderes mehr ist als das Verlauten, als die aussprechende Sprache des reinen Daß?
Als erstes sagt, von sich her, das Daß an sich selbst eben sein An-sich-selbst-Sein. Was heißt das? Es „sagt“ in seiner reinen Ursprünglichkeit nicht „ist“, sondern „bin“, nicht sich als von sich distanzierbare Wirklichkeit, sondern sich als distanzlose Verhaltenheit seiner selbst an sich selbst, die allem Ausgang von sich weg zuvorkommt und in allen Ausgang von sich selbst sich mitnimmt. Sosehr es nur als solchermaßen „an sich“, d. h. „nicht von sich weg“ seiend5 selbst ist und also überhaupt ist, bedeutet dieses An-sich-Sein doch als „reines Selbst“ zugleich völlige „Selbstentschlagung“6, will sagen: Nichtbefaßtheit mit sich selbst. Schelling spricht von der Schwierigkeit, „diesen ersten Begriff zu erfassen, weil alles Erfassen in einem sich-gegenständlich-Machen besteht, hier aber kommt es gerade [239] darauf an, das absolut Nichtgegenständliche in dieser seiner Ungegenständlichkeit sich zu denken“7. Er verweist ans Experiment, an das Vorkommen in der Verborgenheit, welches das Leben in uns etwa im „an-sich-Halten“ des „Atems“ für uns empfindlich macht8.
Und doch sagt dieses „bin“ zugleich „ist“, es ist nicht nur Verhaltenheit, sondern auch Ausgang, der sich vor sich bringt, in die Gegenbenheit „außer sich“ und „von sich weg“9.
Indem aber das „Ansichsein“ in seiner reinen, nicht mit sich befaßten Selbstlosigkeit begabt ist mit sich, mit dem „Fürsichsein“10 desselben absoluten Daß, indem das „bin“ ein „ist“ bedeutet, selbst also sich enthält, ist es sich wiedergegeben, in sich geendet, mit sich selbst selbig und in der Offenbarkeit dieser Selbigkeit, es ist „bei sich seiend“11.
Erscheint solche Auslegung des absoluten Daß durch das sich in die Stelle dieses Daß einschwingende Denken indessen nicht als willkürlich? Die zugrunde liegende Bewegung des Denkens ist jedenfalls die, auf welche sich der Entstand der „Naturphilosophie“ des jungen Schelling zurückführen läßt: die konstruktive Setzung aller Verhältnisse dessen, was ist, von innen, als Selbstgeschehen einer nicht mehr nur menschlich transzendentalen Subjektivität. Die Auslegung des Daß von ihm her durchs Denken, durch die Einschwingung des Denkens in es selbst, verbindet die Ekstase der Vernunft am Anfang der positiven Philosophie über alle Unterschiede hinweg mit der intellektuellen Anschauung der Frühzeit.
Diese Bewegung des Denkens hat als Auslegung des unvordenklichen Daß indessen ihren Anlaß und ihr Recht darin, daß Sein, wo immer es dem Denken aufgeht, letztlich sich vom Selbstsein her erschließt, Selbstsein als das eigentliche Maß des Seins erschließt, weil Sein, das nicht selbst, das im letzten also kein Selbst ist, seinen Unterschied vom Nichts nicht verwahrt und also: nichtig ist. Die gleichwohl zurückbleibende Problematik des Schellingschen Ansatzes wird uns später nochmals beschäftigen.
Die von uns vorgeschlagene Hinführung zum Ansatz der Was-Frage des Denkens im absoluten Daß ist in dieser Gestalt jedoch nicht direkte Interpretation Schellingscher Texte, sosehr sie sich an [240] den Inhalt der 12. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung anlehnte12.
Diese enthält von uns bislang noch übergangene Zwischenüberlegungen. Sie und, mit nochmals anderem Ansatz, die einschlägigen Gedanken der „Anderen Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie“, die Schelling in Berlin im Winter 1841/42 las, erschließen eigene und verschiedene Zugänge zu dem von uns zunächst „unmittelbar“ gewonnenen Sachverhalt. Sie sollen in der Folge gesondert zur Sprache kommen, zumal sie zum Begriff Gottes in der positiven Philosophie das Entscheidende beitragen.