Die Stunde des Neubeginns

Ursachen der Entfremdung

Um den Gründen dieser Entwicklung auf die Spur zu kommen, müssen wir von drei Erfahrungen sprechen.

Einen ersten Charakterzug unserer Epoche haben wir bereits genannt: Die Bilder sind anders. Wenn aber die Bilder anders sind, ist das Leben anders. Kirche und Gesellschaft, Evangelium und Menschen von heute, so stellten wir fest, sind nicht mehr gegenseitig „im Bilde“, sie kennen einander nicht: Entfremdung, Fremdheit. Plakativ gesagt: Der Glaube ist bildlos, die Bilder sind glaubenslos geworden. In den Rahmen der technischen Welt paßt der alte Glaube augenscheinlich nicht mehr herein, er sprengt den Rahmen. Die genuinen Bilder der technisch bestimmten Kultur verbreiten ihre eigenen Faszinationen und Schrecken. Doch das die ganze Welt und das ganze Leben umgreifende Maschennetz dieser Kultur zerreißt zusehends in jüngster Zeit und läßt in die Leer-Räume die Phantasien einer neuen Religiosität einströmen. Aber wie weit weg sind die Faszinationen und Schrecken solch „neuer Religiosität“ von christlichen Botschaften wie Menschwerdung, Osterereignis, Dreifaltigkeit!

Ein zweiter Zug unserer Zeit hängt mit diesem Befund unmittelbar zusammen: Bilder und Inhalte werden nicht mehr durch Tradition, zu der notwendigerweise Autorität als tradierende Instanz gehört, in die Welt der folgenden Generation eingebracht. Die Ideen und Bilder unserer Zeit sind so vielgestaltig und haben so wenig miteinander zu tun, daß sie keine einheitliche „Bilderwelt“ entstehen lassen. Die „Autorität“ für ein Bild liegt in ihm selbst, in seiner Originalität, seiner inneren Kraft. Die Einheit unserer einswerdenden Welt ist eher technisch-funktionaler Art, ein weltweites Verbundsystem von Information und Kooperation, als nach Art einer Zeiten und Räume umgreifenden Tradition, die ein gemeinsames Denken, Streben und Leben zeugt. Die Forderung der Moderne, jeder müsse eigenständig entscheiden und dürfe seine Entscheidungen nur auf ihm einsichtige Argumente stützen, steht in tiefgreifender Spannung zum (keineswegs unkritischen) Vertrauen vergangener Zeiten auf Autorität und Tradition, denen gegenüber „Neuerer“ die Beweislast zu übernehmen hatten. Diese revolutionären Ideen schlagen erst heute in die Lebens- und Bilderwelt des einzelnen durch, bestimmen aber deshalb umso wirksamer unsere „Mentalität“.

Aus der Vorrangstellung des Subjekts und seiner Freiheit gegenüber der objektiven Autorität der Tradition ergibt sich ein drittes Charakteristikum. Die technische Kultur ist eine Einheitskultur: Alle Kulturgüter sind von derselben Machart, sind Produkte des Planens und Konstruierens. Wenngleich der Mensch alles Mögliche machen kann, selber in unserer komplexen Welt zahllose Rollen übernimmt und alle mit allen technisch-funktional verbunden sind, zeigt sich inmitten dieses Fortschritts eine neue Armut. Wo bleibt in dieser undurchschaubaren Vielfalt für den einzelnen die Einheit seiner Person, seines Lebens, und wo bleiben Kulturen und Völker einende Ideen und Ideale? Woher soll er die Einheit seines Lebens und seiner Welt gewinnen? Die heutige Entfremdung zwischen christlicher Botschaft und unmittelbarer Lebenserfahrung droht den Blick auf die frühere Antwort zu verstellen: die Einheit stiftende Kraft der Person und Botschaft Jesu. Fast wie aus einer anderen Welt klingt uns die Erfahrung der frühen Christenheit, die Einheit des Ganzen in Jesus Christus gefunden zu haben, wie sie etwa der Epheserbrief triumphierend verkündet: In der Kirche sei die radikale religiöse Differenz zwischen Juden und Heiden (heute würden wir sagen: der ideologische Konflikt) irrelevant geworden; denn „Er (Christus) ist unser Friede“ (Eph 2,14). Evangelium, christlicher Glaube bieten sich nicht mehr unmittelbar als Einheitspunkt und verbindende Klammer des Ganzen an. Bestenfalls werden sie zu einer Insel für Trostbedürftige, einem Ghetto des Privaten und Innerlichen.

Das Auseinandertreten von Bild- und Lebenswelt des Glaubens und der von Technik und Subjektivität geprägten Kultur, das Fernrücken verbindlicher Tradition, die Not um eine neue Einheit, die aber nicht mehr von der entschwundenen Sphäre des christlichen Glaubens erwartet wird: dies sind Grundzüge unserer Situation, die eine fundamen- [6] tale Neubesinnung und Neuorientierung der Glaubensverkündigung erfordern.