Voraussetzung des Dienstes: dienende Gemeinde

Utopie oder Weg?

Das Stichwort unserer Überlegungen heißt Gleichzeitigkeit. Recht verstanden eignet es sich durchaus, um eine Theorie der dienenden Gemeinde und auch eine Großplanung des Dienstes der Gemeinde und an der Gemeinde zu entwerfen. Mit Theorie und Großplanung allein wäre aber das Entscheidende gerade nicht getan. Der Dienst der Gemeinde und an der Gemeinde müssen ihren Schwerpunkt an der Lebensgestalt von Gemeinde finden, will sagen darin, daß sie gleichzeitige Gemeinde wird. Das heißt konkret: Menschen, die in verschiedenen „Welten“ leben, Menschen, die sich immer fremder und isolierter in unserer Funktionsgesellschaft gegenüberstehen, sollen erfahren können, daß sie etwas miteinander zu tun haben, weil einer, weil derselbe, weil Jesus Christus etwas mit ihnen zu tun hat. Und die Welt, in der Gemeinde steht, soll erfahren können, daß jene, die aus und in der Gemeinde leben, etwas mit ihr zu tun haben. Viele, die an der Kirche leiden, vermissen in ihr entweder die Gleichzeitigkeit mit dem lebendigen Herrn, der im funktionalistischen Umtrieb, in der starren Situation oder in der hektischen Anpassung nicht mehr zum Vorschein kommt, oder sie vermissen die Gleichzeitigkeit mit der Zeit, die an den Binneninteressen und an der Binnensprache der kirchlich Engagierten anscheinend spurlos vorbeigeht. Wieder andere vermissen an der Kirche, daß sie kein Raum der Geborgenheit, keine Heimat, keine wirkliche Gemeinschaft sei, in welcher der einzelne sich angenommen weiß, in welcher er leben, er selbst sein kann. Wo anders könnte die [30] Antwort liegen als gerade darin, daß Kirche und Gemeinden sich um diese mehrfache Gleichzeitigkeit beständig bemühen: Gleichzeitigkeit mit dem Herrn, mit der Welt, miteinander?

Nur so können auch die Probleme, die uns eingangs beschäftigten, eine glaubwürdige Lösung finden: Dienende Gemeinde, in welcher die Gleichzeitigkeit mit dem Herrn, die brüderliche Gemeinschaft und die Zuwendung zur Welt erfahrbar sind, läßt bloße Teilidentifikation und bloße Konsumhaltung nicht zu, die solche Teilidentifikation fast unweigerlich nahelegt; Identifikation selbst wird in dieser dienenden Gemeinde zum Lebensvollzug, der das in sich befangene Ich herausführt über sich selbst zum Du, zum personal begegnenden Herrn, zu den Realitäten der Gesellschaft und der Welt. Das Streben nach Partizipation und Mitbestimmung kommt aus der Engführung eines nur formalen Rechtes oder eines nur selbstbezogenen Interesses heraus und wird zum Dienst, der das Eigene und Persönliche zwar hergibt, so aber gerade erst ins Spiel bringt. Der Drang nach innen, die Suche nach Sinn, der Weg zu Ursprung und Geborgenheit wird nur dort nicht zur Flucht, wo das Innerste der Geist Jesu ist, der sich dem Außen, dem Ganzen zuwendet, wo der Sinn die Liebe ist, die sich nur erfüllt, indem sie andere erfüllt, wo der Ursprung der Gott ist, der sich verschenkt. Überall geht es um Gleichzeitigkeit des scheinbar Entgegengesetzten: der Identifikation und der Entäußerung, des Sich-Einbringens und des Sich-Verschenkens, der Wendung nach innen und der Wendung nach außen.

Doch haben wir nicht Pfade in Utopia entworfen? Wo liegt diese Gemeinde? Nun, gewiß nicht in der bloßen Elitegemeinde, in jener der hochstilisierten Entscheidungen, die sich um die Durchschnittsmenschen nicht kümmert. Gleichzeitigkeit mit dem Herrn, miteinander und mit der Welt gerät allein dort aus der Sphäre der Träume, der Ideale und der Entwürfe, wo wir die Gleichzeitigkeit zweier Pole annehmen, die in der Tat eine harte, vielleicht die härteste Spannung erzeugen: unverkürzter Glaube, unermäßigte Anforderung, ungebrochene Hoffnung auf der einen Seite und Annehmen der wirklichen Menschen, der wirklichen Gemeinde, der wirklichen Kirche, bei denen es kaum je idealer aussehen wird als bei denen, die Jesus am Anfang zu seinen Jüngern gemacht hat.