Gerufen und verschenkt. Theologischer Versuch einer geistlichen Ortsbestimmung des Priesters

Ver-sammlung

Man könnte es das „Salzkom“ allen christlichen Betens nennen, den Punkt, an welchem die Unterscheidung des Christlichen am deutlichsten und schärfsten durchschlägt: daß im Gebet zu Gott immer der Bruder, immer der andere mit da ist, daß im Ich-Sagen des Beters immer ein Wir-Sagen eingeschlossen ist. Mustern wir nochmals kurz die bislang anvisierten Weisen unseres Daseins vor Gott daraufhin durch. Liturgie ist Einstimmen in die Stimme der Braut, will sagen in die Stimme des Ganzen, der Kirche, der erlösten Menschen. Beschauung, kontemplatives Dasein sucht Gott nicht nur in der Abgeschiedenheit, in der Seelenspitze, im absoluten Oben. Sosehr das Gebet bis dorthin geht, es kann nirgendwo hinkommen, wo nicht im Vater der Sohn und im Sohn ein für allemal wir zugegen wären. Wir sind miteinander verbunden im Sohn und im Sohn durch den einen Geist mit dem Vater. Nichts ist höher, nichts inwendiger in Gott als seine dreifältige Liebe, die er selber ist und in die er in Jesus Christus ein für allemal uns aufgenommen hat. Sosehr dies freie Tat seiner Liebe ist, sowenig es Notwendigkeit seines Wesens, seiner Natur ist, sondern eben sein freier Entschluß, sosehr ist doch er selbst dieser Entschluß. Und daher ist jene Kontemplation, die Gott im Bruder und Gott im Miteinander [115] findet, nicht geringer, sondern sie trifft den Nerv. Fürbitte aber – die zuletzt betrachtete Form des Betens – fuhrt wie von selbst hinein in die Communio Sanctorum.

Versöhnt beten

Gemeinsam beten, in Versammlung mit anderen auch in mir selbst gesammelt sein: das geht als Grundzug christlichen Betens im elementarsten aller Gebete auf, in jenem, das der Herr selber uns zu beten lehrte. Wer dieses Gebet spricht, der sagt nicht nur „Vater“, er sagt auch „unser“. Er erwartet in diesem Gebet alles von Gott allein, aber er erwartet es im Wir. Und in einem Punkt ist der Beter auch als Täter gefordert, nur dieser eine Punkt – wir spielten bereits darauf an – bringt menschliche Aktivität unmittelbar ins Spiel. Es ist der konstitutive Beisatz der Vergebungsbitte: „wie auch wir vergeben unsem Schuldigem“. Das Vaterunser läßt sich nur beten, wenn das Subjekt dieses Betens, eben das Wir, nicht gebrochen ist. Und dieses Wir bricht nur von uns aus. Ich kann nur zu Gott beten, wenn ich im „Wir“ vor ihm stehe, wenn dieses Wir zumindest, sofern ich allein bete, in der Transparenz und Versöhntheit meines Herzens gegenwärtig ist. Ich kann und soll in der Kammer meines Herzens zum Vater rufen (vgl. Mt 5,6), aber ich kann es nur als ein mit den anderen Versöhnter und in Liebe Geeinter. Und so hat Beten, hat Schwerpunktverlagerung unseres Daseins auf Gott allein zu nur diese eine Voraussetzung, auf daß es wahrhaft gelinge: Ich darf das Wir, das zu mir gehört, zu dem ich gehöre, nicht brechen, nicht im Bruch lassen. Dabei spielt nicht die Frage, ob ich oder der andere schuld ist, die entscheidende Rolle, es geht vielmehr einfach dämm, daß diese gottgefällige, Gott entsprechende Einheit und Versöhntheit da ist. Deswegen ist es notwendig, daß jene, die das Vaterunser miteinander beten, sich in dieser Bitte vor [116] Gottes Antlitz als versöhnlich und versöhnt bekennen. Und deswegen ist es, wenn ich meine Gabe zum Altar bringen will, notwendig, sie dort zu lassen und zuvor mich mit dem Bruder zu versöhnen, falls er etwas gegen mich hat (vgl. Mt 5,23f). Ja, diese Versöhnung miteinander ist der Beitrag zu unserem Gebet, der uns nicht abgenommen werden kann. Aber stimmt das? Kann uns nicht auch die Bekehrung unseres eigenen Ich zu Gott nicht abgenommen werden? Gewiß, wir müssen uns selbst vom Geist dazu bewegen lassen, müssen selber bereit sein zu diesem Schritt. Es gilt, sich hineinzu werfen in das Vertrauen zum Vater, in die Bereitschaft, daß sein Name sich heilig erweise, sein Reich komme und sein Wille geschehe. Doch das ist die Probe auf diesen Schritt, das der Boden, der ihn trägt: die Versöhnung. Nur wenn mir der Name des anderen heilig ist, ist mir Gottes Name heilig. Nur mit dem anderen kann ich dem kommenden Reich entgegengehen. Liebe, Versöhnung sind Wille des Vaters im Himmel und auf Erden. Nur gut, daß wir auch um die persönliche Umkehrwilligkeit und um die Versöhnungsbereitschaft mit dem Nächsten bitten können. Wie könnten wir sonst überhaupt beten, solange wir als Jünger Christi nicht das ganze Maß seiner Einheit erreicht haben? Und umgekehrt erhellt aus diesem Zusammenhang auch die Bedeutung des Gebetes Jesu für die Einheit der Seinen (vgl. Joh 17,21–23), der Vorrang, den das Gebet um die Einheit und die Bemühung um die Einheit unter den Anliegen unseres Betens und Handelns haben.

Vereint beten

Doch nochmals: Warum sind in unserem Gebet der „Vater“ und das „unser“, also unsere Gemeinsamkeit so unlöslich zusammengespannt? Es liegt am Standort unseres Betens selbst, [117] am Standort, an dem wir uns als Christen und zumal als Priester vor Gott finden. Wir können da an keinem anderen Platz stehen als in Jesus Christus; wir können nur in ihm und in seinem, dem Heiligen Geist zum Vater rufen. In ihm aber stehe ich, weil ich selbst von ihm angenommen, von ihm übernommen, von ihm zum Vater getragen bin. Es ist jedoch dieselbe Gebärde, dieselbe Liebe, dieselbe Hinnahme, derselbe Gestus der Annahme, der dich und die anderen und mich zu ihm trägt. Erlöst sein von Jesus Christus, geliebt sein von Gott, das heißt: sich hineingeben in die ganz und gar je mir zugewandte, aber darin zugleich den anderen, jedem anderen, ganz zugewandte Liebe. Und ich nehme diese Liebe nicht an, stelle mich nicht in sie hinein, wenn ich nicht bedingungslos und barmherzig, wie Er barmherzig ist, den anderen mit annehme. Was nun in Jesus Christus, in seiner Erlösungstat, von Gott her schon Wirklichkeit ist, das wird in Raum und Zeit vollzogen; das leuchtet auf; wird Zeichen und Magnet in der Kirche als der Gemeinschaft der Versöhnten. Vor Gott sein, in Gott sein, das heißt in dieser Versöhnung sein, die in Jesus Christus dich und mich und alle verbindet. Dem vertikalen Gebet zum Vater hin entspricht untrennbar das horizontale „Gebet“, die Schwerpunktverlagerung zwischen dir und mir in die Einheit, in die Gemeinsamkeit hinein: in Jesu Namen. Dies steht hinter der Notwendigkeit, immer in der Versammlung, in der Communio, in der Gemeinschaft der Herausgerufenen und Zusammengerufenen, der Ekklesia zu sein, wenn ich bete. Natürlich hört Gott auch auf die fernen Stimmen, die von weit her und von außerhalb zu ihm rufen und den Weg in die Ausdrücklichkeit der Kirche noch lange nicht gefunden haben, vielleicht nicht einmal von so etwas wie Kirche wissen. Doch auch von solchem Gebet gilt, daß der Sohn sich aller Menschen Stimme zu eigen gemacht hat und daß seine Braut in dieser aller Namen mitruft, heimlich [118] mit allen diesen Stimmen im Bunde ist, so daß sie „im Bunde“ sind. Eines der kostbarsten Stücke, wenn nicht das kostbarste des Neuen Testamentes über das Gebet, außer dem Vaterunser, sind die beiden Verse in der „Gemeinderede“ Jesu aus dem Matthäusevangelium: „Weiter sage ich euch: Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,19f.). „Gemeinsam erbitten“ – im Urtext klingt es freilich noch viel radikaler: Es geht um ein Übereinstimmen (symphonein) in irgendeiner Angelegenheit, so daß zwei einmütig darum bitten. Mehrere (es dürfen ungezählt viele sein, aber mindestens müssen es eben zwei sein, damit diese Gemeinsamkeit zum Zuge komme) machen sich von ihrem bloß eigenen Denken und Wollen so frei, daß sie, ganz und gar eines Sinnes geworden, in dieser Sache vor den Vater hintreten können: Ja, so dürfen wir es dem Vater anvertrauen! Was im großen Gebet des Sohnes zum Vater am Kreuz, in seiner Ganzhingabe an ihn geschah, wo er die ganze Menschheit in seinem Herzen, in seinem Schrei, in seinem Tod zusammen- und in den Vater hineinhielt, das ergreifen die so Betenden in ihrem Einswerden vor dem Vater. Wo sich solches Einswerden in der Hingabe an den Vater ereignet, dort wahrhaft ist Versammlung in Jesu Namen, dort wahrhaft ist er selbst. Und wo er ist und vor dem Vater steht, da ist Erfüllung. Man kann so nicht beten, um Gott zu überlisten, um ihm etwas abzutrotzen. Man kann so nur beten, um ganz eins zu sein mit Gott und seinem Willen – und daraus erwächst Offenheit, daß Unerhörtes geschehen kann. Für mich als Priester gehört diese Weise des Betens zu den dringlichsten Pflichten und beglückendsten Geschenken, um meinem Auftrag gerecht zu werden. Wenn es darum geht, daß Kirche Kirche sei; daß Menschen glauben können; daß wir [119] den Himmel finden und den Himmel geben, dann kann dies von keinem anderen Ort aus fruchtbarer und zeugnishafter geschehen als von jenem Himmel zwischen uns, in welchem der Herr mit uns und in unserer Mitte im Geist zum Vater ruft und vom Vater erhört wird.