Viele Wege führen ins Getto

Verändern oder Bewahren: eine Alternative?*

Es ist gar nicht so leicht auszumachen, auf welche Weise sich die Kirche am schnellsten und sichersten aus dem Dialog mit der Zeit hinauskatapultiert. Auch ins Getto führen viele Wege. Das Dilemma besteht darin: Wollten die Christen nur unter sich bleiben, so bliebe der nicht unter ihnen, um dessentwillen sie beieinander zu bleiben haben. Blieben sie nicht beieinander, so passierte wiederum dasselbe: Derjenige, der ihre Mitte sein soll, hätte nicht, worin er Mitte sein könnte - und gerade wenn er Mitte ist, so ist er es auf jene dynamische Weise, die alle Enge und Introvertiertheit sprengt. Fazit: Kirche, die nicht auch nach innen orientiert wäre, könnte sich gar nicht nach außen, könnte sich gar nicht über sich hinaus orientieren. Die Alternative heißt also nicht: Kon-sistenz nach innen oder Ek-sistenz nach außen, sondern eines im anderen, eines als die Bedingung des anderen, und dies in beiden Richtungen.

Als Programm läßt sich das schön sagen, aber droht solch ein Programm nicht das Alibi zu werden fürs unbequeme Tun? Derlei kann natürlich immer passieren; doch die Angst davor, daß es passieren könnte, rechtfertigt noch lange nicht, auf jene Orientierung am Wesentlichen zu verzichten, ohne die Wagnis und Aufbruch doch nur zur Flucht würden, die letztlich wieder im Getto landen müßte. Nicht die „goldene Mitte“ eines Kompromisses zwischen gefährlichen Extremen ist der Weg der Kirche, sondern die harte Mitte, in der alle Spannungen ausgehalten und bestanden werden, die einer schon ausgehalten und bestanden hat, einer, der dies freilich am Kreuz tat.

Man redet heute viel davon, die Kirche sei drauf und dran, jener Öffnung wieder zu entraten, deren eindrucksvolles Zeugnis und hoffnungsvoller Impuls das II. Vaticanum war. Das Wort „Impuls“ ist mit Bedacht an die Stelle des zu erwartenden anderen Wortes „Anfang“ gesetzt; denn das Konzil hatte - das darf nicht in einer Schwarzweißzeichnung des Vorkonziliaren vertuscht werden -, wenn auch unter Schmerzen, bereits lange vor sich selbst angefangen. Doch was ist an der genannten Rede vom Rückzug hinter das Konzil? Dieser Rückzug kann in zweierlei Gestalt geschehen. Einmal derart, daß man die Öffnung des Konzils zementiert, als museale Trophäe in die Vitrine unauslöschlich ruhmreicher Vergan- [71] genheit abdrängt und, wie dies in Museen eben üblich ist, mit einem Schild versieht: Berühren verboten, alias: Bis hierhin und nicht weiter. Zum andern wäre es aber auch ein Schritt hinter das Konzil zurück, wenn man seine Öffnung in ein abstraktes „dynamisches Prinzip“ umdeutet zu einem Gesetz, das alles nur daran bemißt, wieviel sich ändert, wie groß die Abweichung vom Überkommenen oder die Anpassung ans Gängige ist. Wieso wäre dies Rückschritt hinter das Konzil? Einfach deshalb, weil eine Kirche, die sich nur durch den Zugzwang der permanenten Veränderung definierte, nicht mehr „Sakrament“, nicht mehr Zeichen sein könnte. Ein Zeichen muß sichtbar sein, muß dort stehen, wo man es sehen kann, muß so aussehen, daß man es verstehen kann; aber wenn es sich nicht abhöbe, wenn es nicht von sich wegwiese, wenn es nur Ornament wäre, mit dem das ohnehin Offenbare sich bestätigte und verzierte, hätte es eben seine Zeichenkraft eingebüßt.

Beide Mißverständnisse des Konzils sind übrigens von derselben Art: Sie deuten das Evangelium um ins bloß Quantitative. Wenn die Frage heißt: Wieviel darf sich ändern, wieviel nicht? und wenn die Frage heißt: Wieviel hat sich schon geändert und wieviel könnte sich noch ändern, dann dürfte man eher in einem Handel mit Bedürfnissen und Ansprüchen als in einem Gespräch sein, in dem Partner einander ganz annehmen, sich einander aber auch ganz zumuten. Die sich bloß bewahrende und die sich bloß verändernde Kirche - und auch die Kirche, die bloß aufs akzeptable Mischungsverhältnis von Bewahrung und Veränderung bedacht wäre - bliebe im Grunde monologisch. In der Sorge um die Selbstbewahrung hört sie nicht auf die, denen sie sich schenken soll, wenn anders sie dem treu bleiben will, der sich selbst verschenkt hat. In der Sorge um die Selbstveränderung geht sie scheinbar ganz auf jene ein, denen sie sich schenken, denen sie das Zeugnis dessen geben will, der sich verschenkt hat - aber indem sie sich allein an Effizienz und Verständlichkeit bemäße, hätte sie der Welt nichts mehr zu sagen und zu bringen, was diese nicht auch sich selbst sagen und bringen könnte.