Hoffnung für uns

Veränderung von Bewußtsein und Praxis*

Misereor als Umorientierung unseres Bewußtseins und unserer religiösen Praxis – darauf wollen wir noch in einer kurzen exemplarischen Verdeutlichung hinweisen.

Nicht umsonst ist Misereor Fastenaktion. Daran, wie eine Epoche zum Fasten steht und Fasten versteht, läßt sich Grundsätzliches ablesen: Wie verbinden sich fürs religiöse Bewußtsein Außen und Innen, wie Gottbezug und Bezug zum Nächsten, zur Gesellschaft?

Die ursprüngliche Idee des Fastens liegt auf der Hand: Abwendung vom selbstherrlichen Verfügen und Genießen, um Raum zu schaffen für Gott, für ihn allein – und darin zugleich offen zu werden für die Not anderer; Fasten und Almosen gehören seit je zusammen. Die neuzeitliche Betonung des Subjekts und der Innerlichkeit ließ naturgemäß den spirituellen, den aszetischen Aspekt des Fastens in den Vordergrund treten. Fasten wurde Mittel und Ausdruck der Selbstheiligung und Selbstreinigung; das Geben für andere, die Liebe zum Nächsten wurde zum bloßen Nebenprodukt. Wie von selbst verlor so aber allmählich die Äußerlichkeit des Fastens gegenüber der Innerlichkeit der Gesinnung mehr und mehr an Rang. Wir haben in unserer Zeit die Endphase dieser bloßen Spiritualisierung, dieser Ohnmacht zum äußeren Zeichen und Ausdruck deutlich genug erfahren. Es ist nur konsequent, daß dieses vernachlässigte Außen, die vernachlässigte Horizontalität sich umso vehementer meldete: in Gefahr des Ersatzes der Innerlichkeit durch den Weltdienst, in Gefahr der Deklarierung sozialer Aktion zur ganzen Religion.

Misereor bedeutet hier nun nicht nur das Einpendeln in eine neue Mitte und Vermittlung, nicht nur die Übersetzung einer geistlichen Haltung in die helfende Tat und der helfenden Bereitschaft in eine neue geistliche Haltung. Misereor leistet, im Ansatz, hier noch mehr. Es geht ja gerade darum, daß nicht nur gegeben, daß nicht nur von einem individuell bemessenen Überfluß her etwas abgeschnitten wird. Es geht darum, das eigene Haben und Genießen, den eigenen Standort im Gesamt der Welt und der Menschheit neu zu bestimmen. Die Armen sind nicht mehr eine Begleiterscheinung der Gesellschaft, die nun einmal dazugehört und für die etwas abfallen muß, damit diese Begleiterscheinung nicht allzu störend wird und die Not nicht eine gewisse Grenze und Zumutbarkeit und Erträglichkeit überschreitet. Was ich selber habe und wie ich mit dem, was ich habe, umgehe, wird neu gelesen von einem umfassenden Kontext her. Dieser Kontext heißt eben Menschheit, Welt. Ich selber empfange mich und mein Verhältnis zu [69] mir aus dem Verhältnis zum Ganzen, und diese Spannung zum anderen Rand der Welt, dieses Verhältnis zum gesamten Horizont der Menschheit, ihrer Not, ihrer Bedürfnisse, ihrer Entwicklung – dies führt über das Zentrum, über den, der aller Vater, und den, der aller Bruder ist. In seinem Geist sehen wir die anderen und sehen wir uns selber neu und so entsteht, nicht aus zentraler Verfügung, sondern aus spontaner Verantwortung, ein neues Verhältnis zum Besitzen und Genießen, eine neue Ordnung des Besitzens und Genießens.

Misereor signalisiert so in der Tat eine doppelte Alternative. Alternative zu einem bloß vom Individuum her gelesenen Besitz, der mit einer sozialen Zusatzhypothek belastet wäre. Alternative aber auch zu einem zentralistischen System, das dem einzelnen nur neutral zumißt, wieviel ihm zusteht und was er abzugeben hat. Der Akteur der neuen Ordnung ist die Freiheit, die Freiheit des einzelnen – aber der einzelne weiß, daß seine Freiheit nicht nur den schmalen Kreis eigener Bedürfnisse und Wünsche auszuschreiten hat, sondern daß jeder einzelne zu seinem Horizont das Ganze, die Menschheit hat. Der Grund hierfür sind nicht nur die äußeren Verhältnisse, ja sie nicht einmal zuerst. Der Grund hierfür ist vielmehr jener, der an alle denkt, der für alle da ist, der sich allen hingegeben hat. Die innerste Beziehung zu ihm ist die äußerste Beziehung zu den anderen, zum Ganzen.

Das mag theoretisch klar sein, darauf zielen praktisch auch manche Appelle in Fastenordnungen und Fastenhirtenbriefen – bis dieses neue Verhältnis zu Gott und zu uns selbst, zu unserem Haben, Genießen und Benutzen der Güter dieser Welt durchgeschlagen hat, braucht es noch einen weiten Weg. Verkündigung, Pastoral, aber auch theologische Wissenschaft stehen vor einer Aufgabe, an deren Bewältigung Entscheidendes hängt: Wird es uns gelingen, eine Ordnung der Gesellschaft mitzuprägen aus dem Geist Jesu? Wird es uns gelingen, Kirche und Christentum selber aus den Engführungen eines bloß individuellen Ansatzes herauszuführen und aus der Vereinnahmung für ein bloß kollektives Denken herauszuhalten? Wird die Formel einer Partnerschaft, die im Gegensatz steht zur Isolierung wie zur Nivellierung, Formel werden für das Erscheinungsbild des Christen und der Kirche in der Zukunft?