Verkündigung und Dialog
Verkündigung in der Spannung zwischen Gotteswort und Menschenwort
Die Offenbarung Gottes, christlich verstanden, in Jesus Christus sich vollendend und von ihm her gelesen, drängt zur Verkündigung. Was an einem bestimmten Punkt der Geschichte geschah, wie dort Gott sich dem Menschen eröffnet hat, das möchte alle Menschen erreichen, es erhebt grundsätzlich den Anspruch, Wahrheit und Heilswahrheit für alle Menschen zu sein. Alle sollen glauben – also muß allen verkündet werden (vgl. Röm 10,13–15).
Was soll verkündet werden? Gottes Offenbarung. Gottes Offenbarung ist Gottes Wort, aber zu diesem Wort Gottes gehört in sich – um des Glaubens und folglich um der ihn auslösenden Verkündigung willen – das menschliche Wort hinzu. Wer nichts anderes verkünden will als allein Gottes Wort, der verkündet es bereits notwendig in einem Menschenwort. Die innere Geschichte von Gotteswort und Menschenwort, das Sich-Geben des Wortes Gottes ins Menschenwort ist Offenbarung, ist Gottes Wort an uns. Verkündigung ist also die Wiederholung des Ineinander von Gotteswort und Menschenwort in der Offenbarung. Solche Wiederholung geschieht aber nur, wenn in ihr zwei Dinge zugleich geschehen: Wahrung des Urtextes und Übersetzung. Beide Worte, Urtext und Übersetzung sind hier auch, aber nicht nur und nicht zuerst in einem idiomatischen Sinne gemeint. Urtext, das bedeutet: „kein anderes Evangelium“ (Gal 1,7). Wir dürfen Gottes Offenbarung nicht auflösen in das, was sie unserer Meinung nach gemeint hat, sie muß das Recht behalten, in ihrer fremden, überfordernden, nie ganz in Verstehen aufgelösten Ursprünglichkeit auf uns zuzukommen. Und doch verkündeten wir ein anderes Evangelium, wenn wir es nicht wiederholten im Sinn eines Herüber- und Hereinholens in die Sprach- und Verständniswelt der jeweiligen Adressaten der Verkündigung. Das Evangelium selber ist ja frohe Botschaft, Heilsbotschaft und somit Botschaft, zu der Hörer gehören, die etwas als ihr Heil, als Freude für sie verstehen und annehmen können sollen. Das Wort Gottes ist Wort Gottes für. Wo wir entweder die unverfügbare Urheberschaft Gottes oder jene hinwegschnitten, an die der Urheber Gott in seinem Wort sich wendet, auf daß sie hören, annehmen und glauben, dort zerstörten wir das Wort in sich selbst. „Gelegen oder ungelegen“, das Wort ist zu verkünden (vgl. 2 Tim 4,2) – und doch könnte es nicht gelegen oder ungelegen sein, wenn der Mensch nicht in sich selber, in seinen Möglichkeiten zu hören, zu verstehen und zu glauben, angesprochen und erreicht würde.
In unserem Zusammenhang bedeutet dies: Gerade weil die Verkündigung keinen anderen Maßstab haben darf als das aufgetragene Wort der Offen- [68] barung, hat sie Maß zu nehmen an den Hör- und Sprachmöglichkeiten jener, denen die Verkündigung gilt. Von Gottes Wort her auf die Fragen der Menschen zu hören, von den Fragen der Menschen her auf Gottes Wort zu hören, diese Doppelbewegung ist dem Verkündiger nicht abzunehmen. Dabei darf freilich Gottes Wort nie in den Hör- und Sprachmöglichkeiten des Menschen einfachhin aufgehen, es will und muß als das je Größere sie in Anspruch nehmen, als jenes, das sich nicht aus den eigenen Möglichkeiten des Menschen herausrechnen läßt. Umgekehrt ist es gerade als dieses je Größere nie zu Ende gesagt; auch wenn die Offenbarung als solche ihre Vollendung gefunden hat, so löst sie doch in der Verkündigung, welche sie intendiert, einen Prozeß der Übersetzung aus, dessen Geschichte so lange und vielfältig währt wie die Geschichte des Menschen, die Geschichte seines Sprechens und Denkens.
Verkündigung hat demgemäß den Dialog zwischen Gotteswort und Menschenwort, der in der Offenbarung selber geschieht, nicht nur zu wiederholen, sondern zu erweitern, fortzusetzen. Zwei Kreise von Dialog sind im Vorgang von Verkündigung also eingeschlossen. Einmal ist es der Kreis, den die Offenbarung selbst beschreibt: Gottes Wort gibt sich ins Menschenwort, indem es auf dieses Wort hört und sich beanspruchend in es einsenkt, um im Menschenwort Gotteswort für Menschen zu sein. Zum anderen ist es der Kreis, in dem sich dieses im Menschenwort verfaßte Wort Gottes überschreitet, um sich hineinzuhören und so erst hineinzusagen in die Hörfähigkeit und in die Fragen der jeweiligen Adressaten der Verkündigung. Hier wird unsere Redeweise von Urtext und Übersetzung aktuell. Die Verkündigung ist nichts anderes als das Offenbarungswort und ist zugleich seine Auslegung. Die Auslegung darf den Urtext nicht verdrängen und macht ihn nie überflüssig. Der Urtext braucht aber die Übersetzung, braucht seine Auslegung. Und Gotteswort ist nur ausgelegt, wenn sich in ihm auch das Herz des Menschen getroffen, wenn sich in ihm auch das menschliche Dasein ausgelegt findet. Dasselbe Wort, das Gott aufdeckt, deckt mir mein Dasein auf, Gottes Offenbarung ist – dieses gewagte Wort hat seinen recht zu verstehenden Sinn – auch Offenbarung des Menschen (vgl. 1 Kor 14,25). Diese Gleichzeitigkeit ist konstitutiv für die Verkündigung. Sicher ist führend dabei die innere Kraft des Wortes Gottes selbst. Wer sich nur ängstigt, ob er das Wort auch recht sagt, und nicht mehr als sich selbst dem Wort Gottes zutraut, der doch den Menschen und sein Herz erschaffen hat, der erreicht das Herz des Menschen nie in jener Tiefe, in welcher Gott es erziehen will und zu erreichen vermag. Aber die Größe und Ursprünglichkeit des Wortes Gottes nimmt von sich her den Verkündiger in Anspruch, es nicht nur äußerlich, sondern auch im hermeneutischen Sinne so nahe dem Mund und dem Herzen des Nächsten auszurichten wie nur möglich (vgl. Röm [69] 10,8; Dtn 30,14). Das doppelte Hören, das Hören auf Gott und das Hören auf den Menschen gehören unlöslich in der Verkündigung zusammen. Wo Gottes Wort als Menschenwort und im Menschenwort sich dem Menschen zusagt, da findet Dialog zwischen Menschenwort und Menschenwort statt. Er ist der Raum, in welchem Verkündigung geschieht, Raum, der zu ihr nicht äußerlich hinzukommt, sondern die der Verkündigung wesenseigene Ausdehnung ist.