Der Himmel ist zwischen uns

Verlorene Mitte

Die Welt gleicht nicht eigentlich einer Kugel mit meinem Ich als Achse, sie gleicht eher einem Spielfeld zwischen uns. Und unser Spiel geht um das Eine, auf das alles ankommt, oder gar um den Einen, auf den alles ankommt. Die Kugel, deren Zentrum „ich“ heißt, würde zum Gefängnis; das Spielfeld zwischen uns, das eine Mitte hat, die größer ist als wir, wird erst zur Welt für dich, für mich, für alle.

Aber nicht nur die Perspektive der Welt hat sich gedreht, auch der Ort Gottes liegt anders. Gewiss, er ist größer als wir, früher als wir; wir dürfen nach wie vor sagen: über uns. Aber wenn er unser Gott, wenn er der Gott der Welt ist, dann ist er eben: Mitte. Auch sein Ort ist: zwischen uns. Wird dann aber nicht jener alte Begriff der Transzendenz hinfällig? Jener Begriff, der sagt: Um Gott zu erreichen, müssen wir uns und unsere Welt übersteigen (transzendieren) zu dem, der größer und anders ist als wir und die Welt. Transzendenz bleibt notwendig. Aber der Überstieg hat eine andere Richtung: Transzendenz zur Mitte. Was größer ist als alles, ist zwischen uns – und das mutet uns nicht weniger den Aufbruch zu, weg vom Ich, weg von meiner Welt.

Für die Welt und für Gott, aber auch für den Menschen heißt das neue Wort: zwischen. Der Mensch ist und bleibt zwar das Wesen der Selbstbestimmung, Wesen, das seine Mitte in sich selber trägt. Der Mensch ist und bleibt auch Wesen der Natur, Wesen der Welt, bestimmt von anderem, angewiesen auf [22] anderes. Er dreht sich nicht nur um sich, sondern muss über sich hinaus. Seine Mitte ruht nicht nur in ihm. Aber nicht im Streit zwischen Selbstgewinn und Selbstverlust, zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung berühren wir die Achse seines Daseins. Diese Achse ist ein anderer, ist Gott. Will der Mensch unmittelbar über sich verfügen, so entgeht er sich. Empfängt er sich je neu von Gott, so findet er sich. Will er unmittelbar über die Welt verfügen, so zerstört er sie oder entgeht sie ihm. Empfängt er sie je neu von Gott, so erschließt sie sich ihm, lässt sich von ihm gestalten. Zwischen mir und mir steht Gott, zwischen mir und meiner Welt, zwischen mir und meinem Nächsten steht Gott. Der „Umweg“ über ihn ist der nächste Weg zu mir und zu allem. Der Mensch ist das Wesen des Umwegs.

Diese Sicht der Dinge bestätigt sich uns in dem, was uns Gott in seiner Offenbarung sagt.

Blicken wir auf den Menschen. Er ist geschaffen zum Bild Gottes. Er soll sich selbst und ihm soll die Welt gehören; aber das Abbild muss auf das Urbild, der Mensch muss auf Gott schauen. „Ipso solo iubente liberrimus – wo ich Gott allein bestimmen lasse, bin ich ganz frei“, sagt Augustinus. Natürlich geht es dem Menschen nicht nur um Gott, sondern auch um sich und um die Welt, ihre Menschen, Dinge, Verhältnisse. Es gibt also immer eine dreifache Achse, eine dreifache Mitte seines Handelns, seines Lebens. Doch allein wenn es dem Menschen zuerst um Gott geht, kann es ihm auch in der rechten Weise um sich und um die Welt gehen; er wird davor bewahrt, sich an sich selber oder an die Welt zu verlieren oder sich an sich selber oder an die Welt zu versklaven. Der Friede mit sich selber im Frieden mit der Welt aus dem Frieden mit Gott: das ist Paradies.

[23] Aber das Glück des Menschen im Paradies hatte einen Stachel. Der Umweg war ihm ein Ärgernis. Warum bin ich Mitte nicht von mir her, sondern nur von Gott her? Hat Gott es nicht einfach: Er braucht nur dazusein, und alles dreht sich um ihn? Sich mit Gott vergleichend, ihm gleich sein wollend, misst sich der Mensch mit Gott – und vermisst sich. Jetzt erst geht ihm Gott als Übermacht bedrückend auf, so dass er sich vor ihm versteckt. Und da er sich selbst einzige Mitte sein will, erfährt er die Übermächtigung des Menschen durch den Menschen, des Menschen durch die Welt. Das andere und der andere werden zur Mitte, um die er wider Willen kreisen muss. Adam sucht sich damit herauszureden, die Verlockung seiner Frau habe ihn übermächtigt – und sie soll nun das Joch ihres Mannes tragen. Kain neidet Gottes Gunst seinem Bruder und erschlägt ihn; Übermächtigung des Menschen durch den Menschen führt zum Mord. Und wo Menschen sich zur stolzen Solidarität verbünden, wie beim Turmbau von Babel, scheitert ihr Werk, verwirrt sich ihre Sprache, werden sie in alle Winde zerstreut. Gestaltung der Welt gerät unter die Übermacht der Naturkräfte, trägt den Stempel von Mühsal und Schicksal. Der Mensch selbst schließlich wird zu dem, der sich stets wieder aufs neue entgeht. Das erste Menschenpaar ist ein Flüchtlingspaar. Ihr Erstgeborener wird nach seiner Untat zum Urbild des umgetriebenen Menschen. Und der Wegzug von Babel nach der Verwirrung der Sprache ist Gegenbild zum Auszug eines Abraham oder zum Exodus des Volkes unter Mose.

Urgeschichte ist exemplarische Geschichte. Die verlorene Mitte ist kein fernes „Es war einmal“, sie ist des Menschen bleibendes Geschick. Schuld, Tod und Einsamkeit sind auch heute noch die Wundmale des übermächtigten Menschen. Daß er sich in die Mitte drängt, die Gott allein zukommt, daß [24] er über den Sinn und die Wahrheit verfügen will: solche Vermessenheit ist die Urgestalt seiner Schuld. Auch und gerade wo sie Schuld des Menschen am Menschen wird. Daß der Mensch, an sich selber gebannt, nur das Maß seiner eigenen Endlichkeit zum Ende zu bringen vermag, daß dieses Ende aber nicht aus sich selbst Vollendung bedeutet: solche Ohnmacht wird besiegelt im Tod. Daß der Mensch dem anderen alles, aber nie sich selbst ganz mitteilen kann, daß er dem anderen alles abnehmen, aber nie stellvertretend ihn selbst übernehmen kann: das wirft ihn zurück in eine letzte Einsamkeit.

Der Mensch ist sozusagen bei seinem Wort genommen, bei seinem Wollen, Gott gleich zu sein, so zu sein, wie er sich Gott vorstellt: er allein seine eigene Mitte. Daß diese Parodie Gottes in Schuld, Not und Einsamkeit mündet, ist nicht eine äußerlich verhängte Strafe oder ein zufälliges Unglück, es legt vielmehr offen, wie der Mensch ist und wie Gott ist. Überspitzt gesagt: Nicht dies war des Menschen Fehler, daß er sein wollte wie Gott, sondern daß er nicht verstand, wie Gott ist. An dieser Stelle sei es nur als Frage formuliert: Ist Gott wirklich dies, sich in sich selber zu genügen, sich nur um sich zu drehen, ohne den Umweg, ohne das Zwischen auszukommen?

Verlorene Mitte als Schicksal des Menschen – sprächen wir hier nur vom einzelnen, so käme nicht der ganze Mensch in den Blick. Geschichte der Menschheit ist Geschichte des Zwischen, Geschichte der Gesellschaft.

Übermächtigung des Menschen durch den Menschen geschieht dort, wo einzelne oder Gruppen ihren Willen der Gesamtheit aufdrücken, sei es im Namen der Macht, sei es im Namen einer Idee oder einer Ideologie. Solche Diktatur entfremdet die Menschen sich selbst. Sie versucht, gewaltsam eine Mitte herzustellen, ohne daß der einzelne sie von innen [25] her als seine Mitte anzuerkennen vermag. Bis in unser Jahrhundert ist Diktatur die gängige Herrschaftsform.

Der größte gesellschaftliche Versuch, sie zu sprengen, ist jene freiheitliche Gesellschaft, die wir Demokratie nennen. Das Recht des einzelnen, sein Freiheitsraum soll gewahrt, ja aus der Übereinstimmung der einzelnen soll das gemeinsame Geschick getragen und geregelt werden. Und doch gerät auch freiheitliche Gesellschaft immer deutlicher in ihre Krise und an ihre Grenze. Geht nicht allzu leicht der gemeinsame Boden verloren, löst das Miteinander sich nicht auf ins Nebeneinander? Auch Aufsplitterung in viele unverbundene Mitten ist Verlust der Mitte. Und wo das Gemeinsame nur noch technisch und pragmatisch geregelt wird, da kommt es zur Übermächtigung des Menschen durch den Apparat.

Ablehnung der Diktatur, Ablehnung eines bloßen Nebeneinander der Individuen, Ablehnung eines ideenlosen Apparates, das führt zur Begeisterung fürs Kollektiv. Wird aber das Kollektiv zum absoluten Wert, da frisst es die einzelnen und ihre Freiheit auf, da wird das gemeinsam produzierte Schicksal selbst wiederum zur Diktatur.

Gerade heute, in einer einswerdenden Welt, erfahren wir Engführungen und Grenzen unterschiedlicher Gesellschaftsformen besonders drängend. Die Frage, die sich uns hier stellt, ist in der Tat die Frage nach dem Zwischen, die Frage nach dem Wiedergewinn der verlorenen Mitte.

Menschheitsgeschichte ist nicht bloß Herrschaftsgeschichte, schon gar nicht bloße Unterdrückungsgeschichte. Sie ist auch Geschichte menschlichen Fragens nach dem Sinn, sie ist auch – und darauf wollen wir noch einen kurzen Blick werfen – Religionsgeschichte. Dies darf uns als Zeugnis für die unwiderstehliche Anziehungskraft der verlorenen Mitte gelten. Immer wieder verstanden Menschen das Geheimnis [26] ihrer Übermächtigung als Hinweis auf die göttliche Übermacht, und die Angst vor dieser Übermacht bricht auf zur Ehrfurcht und Verehrung. Angewiesen auf die Übermacht des Göttlichen, versucht der Mensch, die Gottheit gnädig zu stimmen. So naheliegend dieser Wunsch ist, er droht immer wieder umzuschlagen ins Ansinnen, sich magisch der göttlichen Gunst zu vergewissern, die Gottheit zu zwingen, sie nutzbar zu machen für die eigenen Ziele.

Eine andere Richtung menschlicher Religiosität läßt sich vielleicht mit dem Stichwort Mystik kennzeichnen: Vor der Übermacht des Göttlichen schwindet dem Menschen das Bewusstsein der eigenen Ohnmacht, er läßt sich hinreißen von der Übermacht, taucht in sie ein. Dabei droht er freilich seiner eigenen Endlichkeit davonzulaufen und in der Einung mit dem Göttlichen seinen Unterschied zu vergessen; er vernachlässigt die demütige Übernahme seines Schicksals, seines Dienstes am Nächsten und an der Welt.

Am deutlichsten hält menschliche Religiosität dort ihre Spur ein, wo sie sich bewußt bleibt, daß der Mensch nicht vermag, Gott zu zwingen oder sich aus eigener Kraft mit ihm zu vereinigen. Als letztes bleibt solcher Religion die Hoffnung und die Bitte, daß Gott selbst die verlorene Mitte wiederschenke, bleibt ihr die Annahme der menschlichen Endlichkeit in Gehorsam, Treue und Dienstbereitschaft. Solche Religion ahnt, was der Alte Bund weiß: Nicht wir finden unsere Mitte wieder, aber die Mitte kann sich auf den Weg machen, uns zu finden.