Aufgabe der Universalität – Aufgabe der Identität

Verlust von Gegenwart – Krise der Philosophie*

Das zweite, was verlorenging, ist die Gegenwart. Gegenwart in einem Umfassenden, Umgreifenden. Gegenwart braucht immer ein Worin, einen Horizont, Gegenwart ist immer Synthese mit anderem, sie ist Gegenwart für und Gegenwart von. Dann aber braucht sie eben den Horizont, das Gespräch, den gemeinsamen Boden – andernfalls zerfällt sie, ist sich nicht mehr gegenwärtig. Wo Menschen einander nicht gegenwärtig sind, wo sie dessen nicht inne sind, daß sie dasselbe meinen, wenn sie dieselben Worte sagen, dort gibt es keine Gegenwart. Wo jeder nur auf dem Recht besteht, seine eigene Sache zu sagen, gelingt keine andere Synthese und somit keine andere Gegenwart mehr als jene der Plakatsäule, auf welcher zwar die einzelnen Plakate den Rand ihrer Nachbarplakate nicht zu überkleben und zu überdecken suchen – aber die Plakate schauen nicht aufeinander zu, sondern voneinander weg. Es braucht eine Verbindlichkeit des Einen und Selben, um in denselben Vokabeln dasselbe zu meinen, und es braucht eine Hoffnung, durch Reflexion, Besinnung und Gespräch, durch Philosophie, durch ein Denken also, das der Wahrheit fähig ist, Unterschiedliches aneinander zu vermitteln, füreinander offen zu halten. Heute aber wird Philosophie weithin nur noch funktional verstanden als Wissenschaftslehre – so vielfältig die Fragezeichen an eine solche Konzeption auch wiederum sind. Gegenwartslosigkeit – vielleicht darf man dies doch so sagen – ist weithin Philosophielosigkeit, Verlust der Hoffnung, sich einer anderen als einer bloß funktionalen und pragmatischen Identität zu versichern. Identität und Universalität aber sind Bedingungen von Gegenwart.

Die Einbrüche von Geschichtslosigkeit und Philosophielosigkeit reißen tiefe Gräben ins Bewußtsein. Wo Geschichte keinen gemeinsamen Raum mehr eröffnet und Philosophie keinen gemeinsamen Raum mehr im Mut zur Wahrheit und in der Hoffnung auf Wahrheit eröffnet, da zerfällt das Ganze in lauter Punkte, nur die Punkte sind noch für sich selbst je gegenwärtig – aber wenn sie ihr Worin verlieren, zerrinnt ihnen eben auch ihre Gegenwart für sich selbst. Der Mensch, der nur noch ein Gesicht hat und keinen Raum mehr, verliert auch sein Gesicht.