Berufung
Verschiedene Momente im einen Ruf
Die Geschichte der Berufung weist in sich selbst eine unabschließbare Fülle auf, Gott wiederholt sich nie; jeder Gerufene – und dies heißt in letzter Konsequenz: jeder Mensch – hat seine eigene Rufgeschichte. Und doch fällt uns an dem sichtbar und herausragend Gerufenen der Heilsgeschichte eine gemeinsame Grundstruktur der Berufung auf. Gott ruft zu sich, er ruft den Menschen über sich und über das hinaus, worin er sich, auf sich selbst gestellt, festzumachen und zu erschöpfen droht.
Wir können da vier Grundmomente beobachten, die in mannigfacher Spielart doch Berufung insgesamt kennzeichnen. Das erste Moment: Verlaß deine Habe! So heißt es ausdrücklich oder hintergründig immer. Sei bereit, deine bisherigen Verhältnisse aufzugeben, löse dich von dem, woran du hängst. Laß es hinter dir und wage den neuen Anfang. Immer ist der Schnitt notwendig zwischen mir und meiner [30] Welt, die ich mir eingerichtet habe, damit ich nicht mehr nur nach meinem Mögen und Brauchen, sondern nach dem Maß dessen, wozu Gott mich braucht, mein Haben und Benutzen der Dinge orientiere. Aufbrechen, hinter mir lassen, weglassen dessen, was ich habe und worauf ich einen Anspruch zu haben glaube, woran ich mich gewöhnt und woran ich mich gebunden habe: solches Verlassen der Habe gehört dazu, daß ich im Ernst mich einlasse auf Gottes Ruf.
Das zweite Moment: Genauso gilt es immer, meinen Willen und meine Zeit an den Ruf freizugeben. Ich muß mein Lebenskonzept verkaufen, ich kann nicht mehr sagen: Ich möchte da oder dort hingehen, sondern es wird mir zugeworfen, zugespielt, zugesagt, wofür ich nötig bin. Ich suche, unter Gottes Ruf lebend, mir nicht das aus, was ich gern möchte, vergleiche es nicht mit anderen Lebenskonzepten, sondern ich werde von Gott in Anspruch genommen. Ich laufe von mir weg ihm nach. Ich habe den Schnitt zu tun nicht nur zwischen mir und meiner Habe, sondern den viel tieferen noch zwischen mir und meinem Willen, zwischen mir und mir. Ich lebe nicht nur in neuen Verhältnissen, ich lebe neu, erhalte neu zugewiesen, wer ich bin. Ich verwirkliche mich, indem ich mich entwirkliche und aus dem Grund aller Wirklichkeit, aus dem mich erschaffenden Ruf Gottes neu empfange. Nicht nur eine eigentümliche Armut, auch ein eigentümlicher Gehorsam gehört elementar zur Berufung durch Gott.
Das dritte Moment: Ich selber soll mich mitbringen, und dieses Ich ist nicht nur mein Wille, sondern meine ganze Existenz, bis hinein in den Leib. Berufung beansprucht immer auch meinen Leib, wenn auch auf recht unterschiedliche Weise. Ich muß mich nicht nur von Ideen lösen, sondern ich muß einen Weg unter die Füße nehmen. Ich muß nicht nur etwas wollen, sondern mit meinen Händen etwas tun. Und schließlich: der Leib als Organ meiner Liebe, als die [31] Mächtigkeit meiner Zukunft, einer Zukunft, die über mich hinausweist in kommende Generationen, mein Leib in seiner geschlechtlichen Kraft; Liebe zu geben und Leben zu geben, ist betroffen vom Ruf. Wo aus menschlicher Beziehung der Liebe Zukunft erwächst, die nicht ein Es ist, sondern ein Du, da berühren wir in der Tat die innigste Nähe des Menschen zu dem, dessen Bild er ist: zum rufenden Gott. Den anderen liebend beim Namen zu rufen und mit dem anderen eine Zukunft ins Leben zu rufen, die selber einen Namen hat: dies ist in einer Anthropologie des Rufes unausweichlich ein besonders entscheidender und empfindlicher Punkt. Und so ragen denn jene Mütter der Heilsgeschichte als besondere Zeichen menschlicher Berufung auf, die aus erstorbenem Schoß durch Gottes Ruf dem Volk seine Zukunft in jenen schenken, die der Herr als Propheten und Boten dieser Zukunft rufen will. Sara (Gen 18 und 21), die Frau des Manoach, die Mutter Simsons (Ri 13), Hanna (1 Sam 1), Elisabet (Lk 1) seien hier genannt.
Noch ein viertes Moment: Immer ist Berufung dazu da, daß Gemeinschaft neu werde, Gemeinschaft gegründet werde. Nie ist einer für sich berufen, sondern immer geschieht Berufung für den Dienst an den anderen, am Ganzen. Gott beansprucht Menschen für sich, indem er sie beansprucht für sein Volk, für die anderen. An Gott verschenktes Haben, an Gott verschenktes Verfügen, an Gott verschenkte Leibhaftigkeit, an Gott verschenkte Einsamkeit zum Dienst und Aufbau der Gemeinschaft: dies zeichnet den Grundriß der Berufung, in welcher der Glaubende sozusagen den ursprünglichen Ruf und Plan Gottes in der Erschaffung des Menschen einholen soll. So ist alle Rufgeschichte auf Adams verlorenen Ruf rückbezogen.
Was aber in solchem Ruf geschieht, das ist immer: neuer Anfang. Wo Gott ruft, da geht es nicht einfach weiter, da werden nicht einfach Bedürfnisse abgedeckt, sondern da [32] wächst neues Leben. Und es geschieht nicht eine durch Gottes Eingriff allenfalls verstärkte und begünstigte Konsequenz mitgebrachter Möglichkeiten des Menschen, sondern es geschieht das Verschenken der mitgebrachten Möglichkeiten, die Annahme der eigenen Grenze aller Möglichkeiten, damit Gott das menschlich Unmögliche wirklich werden lassen kann. Ruf hat es wesenhaft mit dem Gott zu tun, der aus dem Nichts das Etwas schafft. Im Ruf verknoten sich Schöpfungsgeschichte und Heilsgeschichte.