Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken und die Diözesen

Verschiedene Weisen gemeinsamer Verantwortung

Die ihrerseits kritischen Bemerkungen zur Krise des „Katholizismus“ hatten keineswegs den Sinn, eine frühere Situation wiederherstellen zu wollen; der Hinweis auf Verkürzungen und Einseitigkeiten, die eine Beschränkung der aktiven Mitverantwortung aller am kirchlichen Leben auf die synodale Mitbestimmung mit dem geistlichen Amt mit sich bringen könnte, wäre ebenfalls mißverstanden, wollte man aus ihm die Konsequenz ziehen, man könne auf die Mitwirkung aller mit dem kirchlichen Leitungsamt verzichten. Es geht vielmehr darum, die verschiedenen Hinsichten und Weisen allgemeiner Mitverantwortung in der Kirche zu sehen, zu artikulieren, weiterzuentwickeln und zu einem Zusammenspiel zu führen, das zugleich alle einzelnen Initiativen und das eine Leben des Ganzen fördert und entfaltet.

[109] Es zeigt sich in der „räumlichen“ Ordnung der Kirche, daß die kirchliche Einheit vom Teil zum Ganzen und vom Ganzen zum Teil hin wachsen muß, ohne den Teil im Ganzen oder das Ganze im Teil untergehen zu lassen: die Notwendigkeit der mittleren Ebenen des Gesprächs und der „Übersetzung“ ergeben sich hieraus. Es zeigt sich des weiteren, daß wie in der räumlichen so auch in der funktionalen Ordnung Entsprechendes gilt: die Vielfalt auseinander nicht ableitbarer und durcheinander nicht ersetzbarer Charismen, d. h. Dienste und Gaben des Geistes, und die Einheit des Gesamten, der im besonderen der Dienst kirchlichen Leitungsamtes zugeordnet ist, müssen zum Austausch, zur Kooperation kommen, damit das Ganze als solches und das Ganze als die Fülle aller es auferbauenden Impulse und Beiträge Gestalt und Leben gewinnt. Solche lokale und solche funktionale Kommunikation im Leben der Kirche bedürfen ihrerseits wiederum der gegenseitigen Durchdringung. Hier aber zeigt sich ein drittes Mal dasselbe: Eine einzige Weise des Zusammenwirkens aller Kräfte und Impulse im Leben teilkirchlicher oder gesamtkirchlicher Einheit reicht nicht aus, um die Vermittlung zwischen Einheit und Vielfalt zu gewährleisten. Wie übersetzt sich diese allgemeine Feststellung in die konkrete Situation? Ohne damit etwas über das Organisationsmodell verschiedener Weisen der Mitverantwortung aller am Leben der Kirche zu präjudizieren, gilt es doch, kurz Eigenart und Unterschied dieser Weisen herauszustellen.

Auf der einen Seite gibt es die Mitwirkung aller bei den Aufgaben des kirchlichen Leitungsamtes, bei seinem Dienst an der Einheit der Gemeinde, des Bistums, der jeweils Gemeinde oder Bistum übergreifenden Zusammenhänge kirchlichen Lebens. Daß es hierbei nicht um einen „Ersatz“ des eigenen Charismas und der eigenen Sendung kirchlichen Leitungsamtes und daß es ebensowenig darum geht, die Leitung der Kirche zum schematischen Resultat mehrheitlicher Meinung über alles und jedes zu entfremden, braucht nicht nochmals eigens dargelegt zu werden. Es gilt jedoch allgemein, daß der verantwortliche Dienst an der Einheit der Kirche im einzelnen wie im gesamten des Kontaktes mit der Vielfalt ihres Lebens bedarf. Alle sollen ihre Gabe und ihren Dienst einbringen können in jene Sicht des Ganzen, aus welcher die Ordnung des Ganzen erwächst. Zur Orientierung des kirchlichen Leitungsamtes an seiner eigenen Sendung und an seinem eigenen Auftrag gehört die Orientierung an Auftrag, Beitrag, Glaube und Leben aller mit hinzu, in welchen ja derselbe Geist sich bezeugt und auswirkt, der in der Vollmacht des Amtes leben und zur Geltung kommen will.

[110] Diese unabhängig von einer bestimmten Zeit der Geschichte gültige Aussage hat ihre besondere Dringlichkeit nicht nur deshalb, weil sie im Bewußtsein mancher Epochen der Kirchengeschichte zweifellos im Schatten stand, sondern auch deshalb, weil nur so der gesellschaftlichen Situation der Kirche heute Rechnung getragen ist. Je differenzierter, je vielschichtiger das Leben der Gesellschaft sich ausfaltet, desto mehr ist der unmittelbare Kontakt zwischen Zentrum und Peripherie erschwert. Nur durch geordnete Bahnen der Kommunikation und der Repräsentation ist die Übersetzung des wirklichen Lebens zum Zentrum und die Übersetzung der Wirksamkeit des Zentrums zur Peripherie hin gewährleistet. Auch das kirchliche Leitungsamt bedarf um seiner Wirksamkeit und seiner Wirklichkeitsnähe willen dieser Bahnen der Kommunikation und Kooperation. So wird die tätige Mitverantwortung aller mit dem kirchlichen Leitungsamt nicht nur aus theologischen, sondern auch aus praktischen Erwägungen heraus zu einem Gebot der Stunde.

Genau diese Situation macht es aber auch unmöglich, sich mit der Mitwirkung aller bei den Aufgaben des kirchlichen Amtes zu begnügen. Je reicher sich das Leben der Gesellschaft und somit auch das der Kirche differenziert, je unterschiedlicher die einzelnen Situationen sich entwickeln, aus welchen die Gesamtsituation der Kirche und der Gesellschaft sich fügt, desto mehr ist für das kirchliche Leitungsamt die Konzentration auf das ihm Wesentliche geboten; bei solcher Konzentration muß freilich durch die gesellschaftliche „Übersetzung“ des Amtes dennoch die Nähe zum wirklichen Leben gewährleistet sein. Gleichwohl erscheint es aber als notwendig, die immanenten Integrationskräfte im Leben der Kirche selbsttätig und selbstverantwortlich zum Zuge kommen zu lassen. Viele isolierte Situationen, viele vereinzelte Kräfte müssen koalieren, soll das Leben in der Kirche zu konkreten Zusammenhängen führen. Es muß also neben der Mitwirkung aller mit dem kirchlichen Amt das Zusammenwirken der freien Initiativen und spontanen Kräfte in der Kirche geben, die isoliert, für sich allein, einer doppelten Gefahr ausgesetzt wären: der Gefahr, sich selbst absolut zu setzen, sich sektenhaft zu verengen, und der Gefahr, das Evangelium nicht in Umwelt und Gesellschaft hinein wirksam werden zu lassen. Diese Zusammenschlüsse freier Initiativen und Kräfte im Leben der Kirche unterlägen mit umgekehrten Vorzeichen wiederum der Gefahr eines Integralismus, wenn sie sich allein als kritische Antithese, als Kontrapunkt zur Leitungsstruktur der Kirche verständen. Offenheit zum Gesamt der Kirche und Mitwirkung im Gesamt der Kirche sind [111] erforderlich, man kann sagen: ein Hineinwirken in die Gremien der unmittelbaren Mitverantwortung mit dem kirchlichen Amt tut not. Doch es kommt eben darauf an, in solchen „Koalitionen“ gerade jene Aufgaben des Christen und der Kirche zu realisieren, die sich nicht „amtlich“ abgelten lassen.

Welches sind diese Aufgaben? Es wäre wiederum ein Fehler, wollte man die Bereiche christlicher Verantwortung und gesellschaftlichen Lebens in solche sortieren, für welche das kirchliche Leitungsamt einen Auftrag hat, und solche, die etwa allein „Sache derLaien“ wären – etwa: Glaube und Sitte für das Amt, die Weltaufgaben für den Laien. Der Glaube ist Sache aller Christen, und die Welt ist Sache aller Christen. Dennoch gibt es in der gemeinsamen Verantwortung für alles verschiedene Weisen dieser Verantwortung, verschiedene Schwerpunkte der Aufgaben. Es ist sinnvoll, zu unterscheiden zwischen den Grundlinien des Glaubens, des christlichen Verhaltens und des prophetischen Zeugnisses in der konkreten Gesellschaft, die für die Einheit der Kirche als solcher aus dem Evangelium und aus der konkreten Situation auf der jeweiligen Ebene kirchlichen Lebens entscheidend sind, und jenen Realisierungen des Glaubens und Lebens, jenen Aktivitäten und Stellungnahmen, ohne welche Christentum in concreto blaß, ungefähr und ungefährlich, weit weg von der Wirklichkeit bliebe, die aber nur aus dem unableitbaren Aufbruch „von unten“, aus der eigenen Verantwortung und dem eigenen Charisma der vielen heraus ihren Sitz im Leben gewinnen.

Vier Lösungen griffen angesichts dieser Unterscheidung zu kurz: 1. Eine Vereinnahmung aller Aktivitäten und Charismen durch eine Allzuständigkeit des Amtes, sei diese durch die Amtsträger allein oder verschränkt mit der Willensbildung des ganzen Volkes Gottes ausgeübt; Veramtlichung im Sinn des verbindlichen Leitungsamtes wäre hier Verfremdung des Amtes und des Veramtlichten. 2. Nivellierung des Amtes und seiner Aufgaben in die pure Beliebigkeit einzelner Initiativen. 3. Isolierung aller einzelnen Kräfte und Initiativen ohne Orientierung aneinander und am Ganzen; hier ginge das konstitutive Element aller Charismen verloren, daß sie füreinander und fürs Ganze gegeben sind, so aber nur im grundsätzlich bejahten Miteinander zur Frucht und zum Tragen kommen. 4. Zusammenschluß der „freien“ Kräfte und Initiativen im Leben der Kirche ohne Austausch mit dem Leitungsamt der Kirche; diesem bleibt die Sorge fürs Ganze aufgetragen, es bleibt der Garant der Einheit des Ganzen, ohne daß sich aus ihm die anderen Charismen und ihre freien Initiativen ableiten ließen und ohne daß es [112] in allem das Recht hätte, sie dirigierend und reglementierend sich zu subsumieren.

Die Konsequenz daraus ist also der Zusammenschluß konvergierender, durch ihre Aufgaben verbundener Kräfte und Initiativen kirchlichen Lebens in einer Weise, die der gesellschaftlichen und kirchlichen Situation entspricht. Diese Zusammenschlüsse haben nicht primär und allein die Aufgabe, beim unmittelbaren Auftrag kirchlichen Leitungsamtes mitzuwirken. Eine solche Mitwirkung aller mit dem kirchlichen Leitungsamt ist gleichwohl aus theologischen und geschichtlichen Gründen angezeigt. Bei dieser Mitwirkung sind freilich dieselben Charismen, dieselben Gaben und Dienste angefordert, die auch die freien, nicht amtlich planbaren Initiativen und Aktivitäten tragen. Das kirchliche Leitungsamt kann nur im Kontakt mit dem, was in solchen Initiativen an Glaube, an Zeugnis, an Begegnung mit der Welt sich ereignet, seinerseits der Situation gerecht werden. Die Wechselwirkung, die Zusammenarbeit tut also not. In ihr muß aber darauf geachtet werden, daß der eigene Stand und Rang der verschiedenartigen Aufgaben nicht eingeebnet wird. Hier ist Notwendigkeit und Grenze einer synodalen Konzeption berührt, hier dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken eine entscheidende Frage für seine eigene Zukunft und für seine Bedeutung im Zusammenspiel der Bistümer gestellt.

Ein kurzer Blick auf die Planung der Gemeinsamen Synode der Bistümer mag dies wiederum verdeutlichen. Es kommen die verschiedenartigsten Wünsche und Erwartungen auf diese Synode zu. Sie brächte sich um ihre eigene Wirksamkeit, wollte sie alle aufgreifen. Die Beschränkung auf das ihr Mögliche ist Bedingung ihrer Effizienz. Es wird darum gehen, daß sie jene Aufgaben wahrnimmt, die in einer gemeinsamen verbindlichen Planung der Bistümer anzugehen sind. Beinahe genauso wichtig ist jedoch, daß sie die anderen Aufgaben, deren sie sich – nicht nur aus Zeitgründen – nicht annehmen kann, ins allgemeine Gespräch und in die Zusammenarbeit der Kirche unseres Landes hineinträgt. Denkt man etwa an Fragen der Gesellschaft, so wäre es gewiß falsch, wollte man behaupten, eine Synode habe hierzu nichts außer einigen Allgemeinplätzen zu sagen. Es wäre jedoch nicht minder falsch, wollte man sie mit jenen Fragen gesellschaftlichen Lebens im einzelnen befassen, die eines vielfältigen und weit aufgefächerten Einsatzes der Christen bedürfen, die aber nicht – außer in blasser Allgemeinheit – von einer gemeinsamen Erklärung der Synode entschieden werden können. In umgekehrter Richtung ist es jedoch selbstverständlich, daß gerade jene Kräfte, die sich im gesellschaftlichen Leben engagieren, in der [113] Synode selbst mitwirken müssen, damit das, was die Synode hier zu sagen hat, nicht neben die Situation gerät, sondern mit ihrem eigenen Auftrag sie trifft und erreicht. Eine totale „Synodalisierung“ aller Fragen wäre genausowenig der Sache angemessen wie ein beziehungsloses Nebeneinander der synodalen Arbeit und des vielfältig geschehenden Lebens der Kirche und der Christen in unserer Welt.