Franz von Baaders philosophischer Gedanke der Schöpfung

Vertrautheit vor dem Erkennen

Der zuletzt angedeutete Weg zur seinshaften Mitte der Vertrautheit führt hinter das Erkennen zurück. Denn aktuelle Erkenntnis hebt nach dem Gesagten grundsätzlich die bloße Vertrautheit meiner Wollensmacht mit ihrem Wollbaren auf und eröffnet die Auseinandersetzung mit ihm. Nochmals eine Schicht tiefer betrachtet, zeigt sich die Erkenntnis selbst als Schließung einer Auseinandersetzung, die sich – wiederum verborgener – als dieselbe Situation von Angebot und Entscheidung enthüllt. Vor der Erkenntnis liegt bereits Auseinandersetzung – und vor ihr wiederum notwendig anfängliches Einssein des Auseinandergesetzten.
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[20] Was nun ist das Auseinandergesetzte, das sich im Erkennen wieder zusammenschließt, und was der vorgängige Boden seiner Einheit? Ich erkenne etwas. Das setzt zunächst eine Auseinandersetzung meiner selbst mit dem mir begegnenden Etwas oder, wie man sagt, des Subjekts mit dem Objekt voraus und schließt diese Auseinandersetzung im einen Vollzug des Erkennens, in den Erkennender und Erkanntes als die Pole des Einen hineingespannt sind: das Erkannte kommt zu mir, bestimmt mich zu dem, was ich als erkennend bin, und ich bin hingespannt zu ihm, in es versenkt, umfange, „bin“ es1 – „bin“ im Sinne des Vollzuges verstanden. Meine Auseinandersetzung mit ihm bricht auf in seinem Begegnen. Dieses ist nur möglich aus meinem vorgängigen Hinreichen zum Begegnenden: ein Baum begegnet keiner Zahl, mir aber können beide begegnen, ich bin beiden von je vertraut, und diese meine Vertrautheit ist die der Erkenntnis vorausgesetzte Einheit2.

Im selben Geschehen schließt sich zugleich eine weitere Auseinandersetzung, die indessen nur eine zweite Seite der ersten ist. Indem ich das andere erkenne, kommen nicht nur wir ineins: es zu mir und ich zu ihm, das andere kommt darin mit sich selbst ineins. Eintretend in die Helle meines Erkennens, tritt es ein in die Helle dessen, was es ist. Ich erkenne es, und dieses Erkennen besteht darin, daß ich vollziehe: das ist…, besteht in der Einung des begegnenden Das mit seinem Was. Zunächst befremdet mich das begegnende Das, und dann berge ich es in das Was, das ich aus mir ihm hervorrufe und entgegenbringe. Nur was mich anfänglich auf ein Was hin anspricht, das ihm vorgängig in mir bereitsteht, erscheint mir überhaupt, wird mir ein Das, und im Begegnen des Das werde ich zugleich beschworen, aus meiner eigenen Tiefe in meinem Einsatz das zugehörige Was heraufzuholen, welches es umfängt und in welchem es aufgeht als das, was es ist. Die Ansprache aufs Was unterscheidet das Erscheinen eines Das vom dumpfen Aufprall zweier vorhandener Dinge aufeinander und erhebt es auch über die Reaktion, die der bloß sinnliche Eindruck etwa beim Tier auslöst.

So tragen sich in meine vorgängige Vertrautheit, meine Bekanntschaft mit dem Erkannten vor dem Erkennen, seine Gegenwart in mir vor dem Begegnen bestimmtere Züge ein; sie ist Vertrautheit mit dem Wesen, mit dem, was das Erscheinende ist. Dies besagt mehr als die bloße Durchgängigkeit einer und derselben Ordnung, welcher ich und mein Erkanntes inne­ stehen, so wie etwa materielle Dinge derselben Ordnung des Materiellen innestehen müssen, um aufeinander wirken zu können. Indem mich ein [21] Das anspricht und damit auf sein Was hin anspricht, berge ich in mir notwendig die Ordnung des mir Begegnenden als ganze, sie ist mir innerlich. Nur so wird die erkennende Wiedereinung eines befremdlichen Das mit seinem zugehörigen Was im Erkennen, im Ist möglich: das ist, was es ist.

Hiermit ist unlöslich eine dritte Seite der einen Auseinandersetzung verbunden, die sich im selben Vollzug des Erkennens schließt. Zwischen dem Auftreffen des Das auf meine vorgängige Vertrautheit und meinem Hervorbringen seines zugehörigen Was aus dieser selben Vertrautheit hat wesentlich die Frage statt: Was ist das? – mag sie faktisch auch oft: im Vollzug des spontanen Erkennens überschwungen werden, dessen Spontaneität indessen in ihr gerade ihre Wurzel hat. In dieser Frage frage ich mich selbst, setze ich mich mit mir selbst auseinander. Ich, der ich durchs befremdende Begegnen des Begegnenden nicht mehr in bloßer Vertrautheit bin, verhalte mich zu mir als Vertrautheit, ich gehe ein in den Grund der Vertrautheit in mir, der das Was dieses begegnenden Das birgt, um es aus ihm antwortend hervorzubringen und in der Antwort mich wieder mit mir selber eins zu machen. Hier tritt die Vertrautheit am schärfsten ins Licht, denn sie ist hier im Vollzuge nicht zunächst das Woraus wie in der ersten und zweiten Auseinandersetzung (woraus ich zum Erkannten erkennend ausgehe als Subjekt zum Objekt und woraus ich dem Das sein Was hervorbringe), sondern zunächst das Wohin, das Ziel meines Vollzuges. Denn ich frage in dieser Frage mich selbst, mich als den, dem das Was des Begegnenden vertraut ist, mich als Vertrautheit.

In jeder Frage, die ich stelle, befrage ich mich selber, mich als meine Vertrautheit: sie ist in allem Fragen die letzte Instanz der Antwort. Denn indem ich etwas befrage, befrage ich eben die Geborgenheit dieses Etwas in mir selber. Und jemand frage ich nur, weil mir das Gefragte zuerst fraglich wurde. Mich darüber befragend, erhielt ich als Antwort den Verweis auf die Zuständigkeit des andern, und deshalb frage ich ihn. Und ich komme wiederum nicht umhin, über seine Antwort mich nochmals zu befragen. Entweder der Verweis auf seine Zuständigkeit, den meine erste Frage an mich mir als Antwort ergab, war nur ein bedingter Verweis; dann muß ich seine Antwort als nur bedingte nehmen, und nur im unbedingten Mitvollziehenkönnen dieser Antwort aus meiner eigenen Zuständigkeit wird sie mir wirklich unbedingt, wahrhaft Antwort. Oder aber ich erhielt den unbedingten Verweis, Verweis auf die unbedingte Zuständigkeit des zu Befragenden, so stellte ich an ihn die Frage des „Glaubens“. Doch auch hier ist es mir unumgänglich, mich selbst nochmals über die geglaubte Antwort zu befragen. Ich ziehe nicht die Zuständigkeit der Antwort in die Frage des Zweifels, aber ich stelle die Frage des Verständnisses: Was soll das heißen? Denn auch die unbedingt vorweg angenommene, im „Glauben“ bejahte Antwort bejahe ich wirklich nur, wenn ich weiß, was ich bejahe; sie ist mir ein begegnendes Das, dem ich sein Was aus der Tiefe meiner selbst, meiner ursprünglichen Vertrautheit, selbst zu bereiten habe. Das Phänomen der Frage, wie es soeben in der vom Zusammenhang [22] gebotenen Kürze berührt wurde, macht sichtbar, daß der Grund der Vertrautheit vor dem Entscheid schlechthin unüberholbar ist, daß er wesentlich den Anspruch der Unbedingtheit über alle bloße Subjektivität hinaus erhebt. Er ist das in mir, was seinshaft meiner Subjektivität vorausliegt. Auf dieses innerste Wesen der Vertrautheit wird noch näher einzugehen sein, hier kann nur auf diese in der Frage „Was ist das?“ aufbrechende vierte Seite der einen Auseinandersetzung verwiesen werden, die sich im einem Geschehen des Erkennens schließt: meine Auseinandersetzung mit der Wahrheit. Indem ich erkenne, daß mein Gegenstand ist, was er ist, erkenne ich zugleich, daß es wahr ist, daß er ist, was er ist.

Ich erkenne den Gegenstand. Darin ist er, was er ist. Das, was er ist, geht aus mir, aus meiner Vertrautheit hervor, kraft dessen, daß ich mich befragt habe, was er sei. Mich befragend, aber habe ich die Wahrheit befragt. Enthüllt sich so in der Frage nach dem, oder positiv gesagt: im Eingehen auf das, was das Begegnende ist, die Wurzel der Erkenntnis, so läßt sich zu Recht die Situation vor dem Erkennen als Engführung der Situation von Angebot und Entscheidung fassen. Der Einwand, daß das Eigentliche der Situation des Entscheidenmüssens hier nicht offen werde, weil echter Entscheid einen Spielraum von Möglichkeiten voraussetze, während die Erkenntnis eindeutig ausfallen müsse, läßt sich nicht durchhalten. Auch wo ein Tun, ein Wählen als Einschlagen dieses oder jenes offenstehenden Weges die Situation prägt, führt der Entscheid Eindeutigkeit herbei, und es ist Gewicht und Rang des Entscheids, als solcher je im Wissen zu geschehen, daß nur eine Lösung die richtige ist. Erkennen ist Erkennen nur, wenn es eindeutig ist, nur wenn das Erkannte im Erkennen das ist, was es ist, und wenn dieses dem Vollzug des Erkennens da ist: ja, nur so ist es wahr, nicht anders. Mein Tatentscheid ist faktisch je eindeutig, weil ich entscheidend meine Eindeutigkeit und Einmaligkeit als Ich dem vereine, wofür ich mich entscheide. Ich setze damit zugleich die Aussage: Ja, so ist es richtig, nicht anders. Und warum nur so? Weil nur so ich selbst mit dem zu Entscheidenden selbst eins bin, als der, der ich bin, mit dem, was ist. So steht der praktische Entscheid wie die theoretische Erkenntnis unter dem Anspruch des Wesens und darin der Eindeutigkeit: alles als das zu nehmen, was es ist. Indessen steht noch ein anderes Bedenken der Gleichsetzung der Situationen vor dem Tatentscheid und vor dem Erkenntnisakt fürs erste entgegen, und entsprechend könnte auch die diesen je vorlaufende Vertrautheit mit dem Gehalt der Tat bzw. des Erkennens nicht eines Wesens sein. In meiner entscheidenden Tat lebt der Ernst meines Selbstseins, der dagegen in der Gestimmtheit des theoretischen Aktes keine Rolle spielt. Meine Einmaligkeit und ihr eigentümlicher Ernst werden vom Streben nach Allgemeingültigkeit des Ergebnisses so aufgesogen, daß das erkennende Ich selbst nur noch einen vertretbaren Fall des zur Erkenntnis erforderlichen Subjektes darstellt. Doch sofern diese Selbstaufgabe in die Achtsamkeit aufs Ergebnis sich durchsichtig bleibt, geschieht sie gerade unter dem Anspruch [23] der Wahrheit an den Ernst meines Selbstseins und also aus diesem Ernst her. Vertrautheit und Situation vor dem Tatentscheid und vor dem Erkenntnisakt behaupten so dennoch ihre wesentliche Entsprechung.


  1. Vom Beseelten gilt: „Secundum esse immateriale, quod est amplum et quodam­ modo infinitum, inquantum non est per materiam termina tum, res non solum est id, quod est, sed etiam est quodammodo alia“ (Thomas v. A., In libros de anima expositio, lib. II lect. 5). ↩︎

  2. Vgl. Thomas v. A., Quaestiones disputatae de veritate qu. 1 a. 1 über die „convenientia entis ad intellectum”. ↩︎