Franz von Baaders philosophischer Gedanke der Schöpfung

Vertrautheit vor der Begegnung

Vor dem Erkennen liegt Auseinandersetzung und vor dieser erst die gesuchte Mitte der Vertrautheit. Die Schwelle von der Vertrautheit zur Auseinandersetzung ist das Begegnen des Das. Der Weg zurück zur Mitte der Vertrautheit führt also über diese Schwelle.

Das eine Geschehen der Begegnung umfängt zwei sich verschlingende Kreise.

Der eine ist eben die Vertrautheit. Sie ermöglicht erst Begegnen und Befremden. Mäße sich das Begegnende nicht an ihrem Maß, so zeichnete es sich nicht als ein Das und nicht als befremdlich ab; es geschähe nicht Begegnung und Befremdung, sondern nichts.

Diese Vertrautheit liegt vor meinem Zutun, sie ist nicht von mir gemacht. Um sie herzustellen, müßte wiederum zuvor ich als herstellender mit ihr als herstellbarer einer durchgängigen Ordnung innestehen. Was ich herstelle, ist vor seiner Herstellung meine Möglichkeit, als solche aber das, was ich vor dem Herstellen „bin“. So erweist sich meine Vertrautheit mit dem Begegnenden als mit meinem Sein zugleich gegeben. Indem ich bin, was ich bin, bin ich offen für Begegnendes; Offensein und Vertrautsein aber ist eines. Was ich in seinem Begegnen als vertraut aufnehme, dem stehe ich vor seinem Begegnen offen. So ist Vertrautheit nicht zusätzlich zu und ablösbar von mir, sondern das, was ich bin, mein Wesen.

Bin ich, was ich bin, so bin ich vertraut mit dem Begegnenden, offen auf es hin. Und bin ich offen fürs Begegnende, so muß es nichts anderes als von sich her erscheinen, damit Begegnung in Gang komme. Das Auge braucht nur offen und lauter zu sein, damit ihm der einfallende Lichtstrahl leuchte. So liegt auch das Erscheinen des Das, liegt die Eröffnung des Begegnens vor meinem Zutun. Und doch eröffnet der Eintritt eines Begegnenden in den von je geschlossenen Kreis meiner Vertrautheit den aus dem ersten allein unableitbaren zweiten, in welchem mein Zutun die Begegnung vollendet.

Wie bricht nun dieser zweite Kreis der Begegnung auf? Wir wenden uns zunächst nochmals dem ersten Kreis zu und fragen, wie er von sich her die Möglichkeit der Öffnung berge.

Was da als erster Kreis der Begegnung ihr voraus schon geschlossen ist, ist die Vertrautheit. Vertrautheit aber und Offenheit, so sagten wir, sind eines. Offenheit ist stets Offenheit für..., und für was sie sich öffnet, das ist wesenhaft ihr schon inne, von ihr umfangen, mit dem ist sie ineins geschlossen, nicht nach der Art dinglicher Vorhandenheit, sondern im Sinne beziehenden Geschehens.

Zugleich und davon untrennbar ist Offenheit aber auch Offenheit von ... Sie ist nicht ohne das sich in ihr öffnende, das als der Ursprung der Offenheit in diese vorgeht und in ihr umfängt. Der sich öffnende Ursprung ist in ihr [24] seiner Beschränkung und Verschlossenheit enthoben. Ohne sich zu verlieren, ist er aus dem bloßen Vorhandensein dazu aufgehoben, auf das hin zu sein, dem er sich öffnet, und das, dem er sich öffnet, wird darin für ihn. Wenn nun mein Wesen die Offenheit ist, so gibt es schon anfänglich kein bloßes Ich nach Art eines starren Punktes, sondern das Ich ist schon je aus sich herausgegangen und aufgehoben in die Weite der Empfänglichkeit fürs Begegnende.

Nicht als ob das Ich in ihr untergegangen wäre, nein; die Offenheit, in die ich als Ursprung ausgehe, hält ihren Ursprung, hält mich selbst hinaus in sich, in die Offenheit, wie mein Auge mich aus mir hinaushält zum Gesehenen und ich mich als Ursprung und Mitte des Sehens darin doch nicht verliere.

Schon das Auge ist nicht nur wie eine Photographenplatte vorhandenes Ding, in dem sich die Vorhandenheit des begegnenden Dinges in einer wiederum vorhandenen Reproduktion registriert, nein, es ist mein, des Sehenden Auge, mein wesentliches Hinreichen zum Sichtbaren, nicht in sich allein erfaßbarer Gegenstand, sondern Organ der Durchgabe und darin der Ankunft des Geschehenen bei mir. Nicht das Auge sieht, sondern ich sehe. Somit ist mein Auge nicht ein Ort zwischen mir und der gesehenen Sache, sondern der Raum ihres Daseins bei mir. Und was ich sehe, ist nicht zwischen der Sache und mir, ist nichts Zweites, kein Bild außerhalb der Sache, sondern im Bild die Sache selbst. Das Auge wird im Sehen Da­Sein ihres Bildes, ihr Bild aber ist Da-Sein ihrer selbst, und sie ist wiederum nicht dem Auge da, sondern mir. Nicht nur die Ordnung faktischen Vorkommens, sondern die Ordnung des Wesens selbst kennt kein Sehen „an sich“, es gibt je nur mein Sehen, und gerade nur deshalb ist Sehen „objektiv“.

Offenheit und Vertrautheit sind so Zuleitung des Begegnenden zu mir, und in der Ankunft des Begegnenden bei mir geschieht der Umschlag zum zweiten Kreis der Begegnung. Ich selbst bin kraft meiner Vertrautheit vom Begegnenden berührbar, und indem mich irgendein Begegnendes unberechenbar und unableitbar wirklich berührt, komme ich in der neuen Dimension meines Ich selbst, meines Zutuns und Selbertuns, ins Spiel.

Die Konstruktion eines Grenzfalls, der faktisch nie rein vorkommt, kann fürs Verständnis des Faktischen konstruktiv sein. Gesetzt, ich besitze die volle Wachheit und Offenheit meines (äußeren oder inneren) Auges, aber kein begegnendes Das, kein Bild von außen und kein Gedanke von innen habe sich in meine Wachheit und Offenheit erhoben, ich stehe vor der Begegnung, so bin ich meiner eigenen Wachheit nicht inne, ich trete mir selbst nicht hervor, sondern bin in meiner Offenheit zum Begegnenden als ich selbst mir verborgen und aufgehoben. Jetzt tritt etwas vor mich hin. Ich bin dessen gewärtig und dennoch davon je überrascht, und in diesem überraschtsein bin auf einmal ich selber da, da als der bestimmte Andere zu dem bestimmten Andern, das mir erscheint. Nun vollziehe ich aus meinem mir offengewordenen Ich selbst neu die Einheit mit dem, was in meine Offenheit getreten ist. Es ist etwas da, dies heißt ebenso: ich sehe, ich gewahre. Was auf mich zukommt, geht zugleich von mir aus. In meinem [25] Tun und Zutun geschieht neu das als das eine und selbe, was mir doch zugleich vor meinem Zutun kraft meines vorgegebenen Wesens zukam.

In keinem Moment des Geschehens der Begegnung bin ich abgelöst von meinem Wesen, der Vertrautheit. Denn nur in ihr ist mir das Begegnende da, und doch hat sich meine Stellung zur Vertrautheit, zum Wesen im Geschehen der Begegnung verschoben. Ich war vor dem Begegnen als ich selbst aufgehoben in meine grenzenlose Offenheit, weil nichts Bestimmtes da war, sondern nur die alles umfassende Offenheit, in der es von mir zu allem andern weder Bruch noch Grenze gab. Jetzt aber hat sich etwas in diesem offenen Horizont erhoben und meldet sich, unterscheidet sich so innerhalb der umfassenden Einheit. Nur so wird es zum Das und kommt zum Erscheinen. Sofern es erscheint, weist es sich aus als zugehörig zu dem für alles offenen und darin in sich geschlossenen Horizont der Vertrautheit. Sofern es erscheinend zugleich als nur es und nur das erscheint, wird es – freilich innerhalb der Vertrautheit – das Andere, es befremdet. Dem entspricht eine doppelte Bestimmung meiner selbst durch das Erscheinen des Begegnenden. Sofern es erscheint, findet sich mein von je schon offenes Wesen erfüllt und bestätigt. Sofern es sich als das Andere im Erscheinen innerhalb der Spannweite meiner Vertrautheit von mir als ihrem Ursprung unterscheidet, ruft es meine Einzelheit und Einmaligkeit in den Vollzug.

So ist mein einer Blick aufs Begegnende doch ein Doppeltes. Zunächst ist er das Da des Erscheinenden, das meine ursprüngliche Vertrautheit aufgrund ihres Vorblicks auf alles mir Erscheinende an mich durchgibt. Zugleich und doch abhängig davon, von diesem Erscheinen gerufen und nach ihm sich richtend, geschieht mein Hinblick, mein unausweichliches (ich muß sehen, was ich sehe) und doch sich selbst einstellendes Nachholen und Einholen meiner selbst zu dem mir Erscheinenden. Und erst darin ist mein Sehen wahrhaft Sehen: im An-sehen und An-schauen, im Ja zum Da.

Nachsehen als allem Sehen eigentümliche Bestimmung setzt sich in den vollkommenen Formen des Sehens nicht als solches heraus, ist aber als überschwungen dennoch da. Selbst das schaffende Sehen des Geistes, die Ideierung, ist erst darin vollendet, daß der Entwurf zurückstrahlt in das entwerfende Auge und dieses ihn bejahend umfängt und so ein zweitesmal gebiert, ihn also nachsieht.

Entsprechend ist alles Erkennen Wiedererkennen, in dem mein Einsatz das begegnende Das in sein zugehöriges, in meiner Vertrautheit seit je geborgenes Was einbringt, welches Zugehören sich mir indessen erst aus meiner Vertrautheit zubilden, mir ein-fallen mußte. Erkennen ist Wiedererkennen also nicht nur, sofern ich im begegnenden Das ein vorerkanntes, vertrautes Was nacherkenne, sondern auch, sofern mein Vollzug Nachvollzug dessen ist, was mir erst übergeben wurde, Behaupten dessen, was mir erschien. Und so ist alles Denken Nachdenken, Gedenken, Wiedergeburt des Empfangenen aus mir selbst. Auch jede Tat, jedes entscheidende Verhalten überhaupt bedeutet Wiederholung eines Begegnenden nach der Maßgabe meiner vorgängigen Vertrautheit. Diese Wiederholung, die aufsteigt aus dem durchs Begegnende betroffenen Ich selbst, ist der zweite Kreis der [26] Begegnung, ist der Entscheid meiner selbst, in welchem ich die Auseinandersetzung mit dem Begegnenden schließe, die sich im unableitbaren Eintritt dieses Begegnenden in meine vorausgesetzte Vertrautheit eröffnete.

In der Ankunft des Begegnenden hat die ursprüngliche Vertrautheit als bloße Vertrautheit bereits ihre Grenze erreicht. Sie hebt sich auf, indem sie das Begegnende zum Erscheinen bringt. Es erhellend, erhellt sie aber auch sich selbst; ihr unberührtes, reines Innen wird offen als das in sich ungeschiedene Licht, das alles unterscheidet, was in es tritt.

Sich aufhebend als bloße Vertrautheit in den Entscheid, in das Ur-teil meines Nachvollziehens des in mir Erscheinenden, verliert sie sich indessen nicht, sondern kommt in ihre eigene Vollendung, das Andere ihrer selbst, das in ihr erscheint, in sich wieder aufhebend.