Die Wahrheit Jesu

Verwandlung der Kriterien

In den Kriterien neuer, aufgehender Wahrheit läßt sich unschwer der Rhythmus der Wahrheit Jesu auf allen ihren Ebenen ablesen.

a) In einem ersten, sozusagen naiven Durchgang zeigt sich nahtlos: Den Anfang setzt die Negation. Verlaß alles, verkauf alles – so hebt der Ruf der Nachfolge an. Nicht du, nicht deine Interessen, nicht deine Familie, nicht einmal ich, dieser Jesus, sondern Gott allein, sein Reich, seine Gerechtigkeit – dies die innere Stimmigkeit eines Lebens allein vom Vater, allein von der Herrschaft Gottes her. Sie ist der positive Inhalt, der in die entleerte Schale des Abschieds, der Negation, der Hingabe gesenkt wird. Wer aber alles verläßt und ihm nachfolgt, der wird – dies die Integration – schon in diesem Leben Hundertfältiges, wenn auch unter Verfolgung, erben und dann das ewige Leben besitzen. Das neue Leben, die neue Gerechtigkeit, der neue Himmel und die neue Erde sind indessen das je Größere und je Andere als all unsere Vorstellungen, gerade durch diese Steigerung schockierte Jesus die Seinen. So läuft die Nachfolge und so kündet die Botschaft.

So löst es aber auch der Weg Jesu selber ein. Er ist Weg, der von sich selber hinwegführt, der vom Ende her gelesen unter dem Vorzeichen der Negation, will sagen der Entäußerung, des Gehorsams, der Selbsthingabe steht. Er zentriert sich nicht in Jesus, sondern in dem, der allein gut ist, dessen Wille allein gilt. Die Stimmigkeit dieses Weges offenbart sich gerade durch den Bruch, ja durch die Katastrophe des Kreuzes hindurch. Sie heißt: Jesu Weg ist Kommen vom Vater und Gehen zum Vater. Dieses Gehen ist letztlich nicht Untergehen, sondern von der Auferweckung durch den Vater her integrierende Restitution, ja Steigerung. Nicht nur die Sache Jesu geht weiter, er selber ist der Lebendige, der Bleibende und im Bleiben der je Größere, der zum Vater aufsteigt und von ihm her im Kommen bleibt.

[109] Auch die vierte Ebene, das Geheimnis Jesu, erschließt sich uns in denselben Momenten. Der Vater ist größer als Jesus, Jesus geht nicht auf im Vater, er bleibt in der Distanz, gegenüber dem Vater, unter dem Vater: Negation. Aber gerade sein Gehorsam ist vollmächtiger Gehorsam, ist authentische Auslegung, ganze Vermittlung des Vaters. In der Niedrigkeit Jesu geht seine Herrlichkeit, in der Differenz seine Ebenbürtigkeit auf. Diese neue, in sich stimmige Struktur der göttlichen Communio, der Communio, die Gott selber ist, Vater und Sohn einander sich gebend, gegenseitig sich verherrlichend im Heiligen Geist, integriert die scheinbar unversöhnbaren Momente des Anders und des Gleich, des Darunter und des Daneben zwischen Vater und Sohn. Daß Gott selber sich in Jesus gibt, daß in ihm Gott seine Geschichte hat, integriert die ganze Geschichtlichkeit Jesu, sein Menschsein, das keine künstlichen Ausnahmeregelungen nötig hat, sondern gerade in seiner Armut eine Anwesenheit der sich schenkenden Liebe ist, welche Gott selber ist. So aber geht in Jesus Christus der ganze Mensch, der Mensch in seiner Einheit mit Gott und in seiner Differenz von Gott und Gott selbst als Communio, als Sichgeben auf. In Jesus, in seinem Geheimnis wird Gott „reicher“, weil nun auch unsere Armut ihm gehört, und wird unsere Armut, ohne uns gestohlen zu werden, Reichtum, weil sie Gott selbst gehört: äußerste Steigerung nicht nur des Menschen, sondern Gottes selbst.

Zumal die Aussagen der vierten Ebene bedürfen exegetisch und dogmatisch einer reichen Differenzierung und Vermittlung, auf die in unserem Kontext verzichtet werden muß.

b) Einen zweiten Durchgang drängt uns die Frage auf, was denn im Fall der Wahrheit Jesu anders ist bei der theophanischen Wahrheit. Sind wir nicht gar hinter ihre Dynamik zurückgefallen, indem wir alle vier Kriterien gleichgewichtig an alle Ebenen der Wahrheit Jesu anlegten? Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch: Der theophanische Bruch verschärft sich sogar.

Zwar geht die Intention Jesu von Anfang an auf die Ehre des Vaters und das Heil der Menschen zugleich. Er verheißt bereits vorösterlich die Integration der menschlichen Unheilserfahrung in der Vergebung der Sünden, in der Überwindung aller Mächte des Todes und der Isolation und in der Ansage grundlosen und grenzenlosen Erbarmens. Doch nicht das menschliche Mögen und Erwarten, sondern allein das Maß, das der Vater von sich her setzt, bestimmt die neue Ordnung. Ihre [110] Stimmigkeit ist nicht von außen, sondern nur von innen, vom vorbehaltlosen Ja zum Willen des Vaters her einsehbar. Der Sohn kann nur den Kelch verheißen, nicht aber das Sitzen zu seiner Rechten und Linken vergeben, und er selbst muß den Kelch trinken und wird nicht aus der letzten Verlassenheit heraus- und vom Kreuz heruntergeholt. Die theophanische Krisis wird zum absoluten Ernstfall, der Nullpunkt kommt nicht nur in Sicht, sondern er wird von der Linie des Geschehens passiert. Die Negation wird in dem Ausmaß führend, daß sich das Geschehen zum Gegenteil der Theophanie zu pervertieren scheint. Was in Tod und Verlassenheit Jesu offenbar wird, ist die reine Abwesenheit Gottes, ist die Vormacht der gegengöttlichen Mächte, der bloße Entzug Gottes.

Und doch geschieht gerade hier der reine Aufgang Gottes aus sich selbst. Gott wird offenbar als der, der er ist: absolute Liebe, die alles, auch noch ihr Gegenteil, integriert und verwandelt. So hebt bereits hier Integration an. Der äußerste Abstand vom Göttlichen, das Gegenteil des Göttlichen wird hineingenommen in den Aufgang des Göttlichen. Die Liebe erfährt ihre Steigerung bis zum äußersten, bis zu dem, über das hinaus nichts Größeres, ja nichts Absoluteres mehr gedacht werden kann. So sind Negation und Stimmigkeit von innen her aufs innigste mit einer universalen Integration und unüberbietbaren Steigerung zusammengespannt – und zugleich treten beide total auseinander, wird ihre Einheit zum reinsten Ereignis göttlich sich gebender Freiheit. Das Ineinander von Negation und Integration im Kreuz nivelliert indessen nicht den Hiatus zwischen Karfreitag und Ostern. Am Karfreitag ist die Integration präsent in der Gestalt der Negation, an Ostern ist die Negation präsent in der Gestalt ihrer Überwindung, in der Herrlichkeit der verklärten Wundmale.

c) In der Wahrheit Jesu erhalten – und dies betrifft alle Ebenen ihres Geschehens – die zwei Momente der Integration und der Steigerung einen eigentümlichen, von anderen Theophanien qualitativ sich abhebenden Charakter. In einem dritten Durchgang sei darauf noch eigens reflektiert. Der Grund für diese Verwandlung der Kriterien ist ein doppelter: zum einen die Radikalität der Negation, zum anderen die Totalität, in der Gott sich in Jesus Christus offenbart und gibt.

Die Integration, die in Jesus geschieht, ist universal. Gewiß haben auch andere Theophanien – es sei zumal an das Alte Testament erinnert – den Zug zur Universalität: Jahwe ist der Gott, der Himmel und [111] Erde erschaffen hat, und zum Zionsberg werden im eschatologischen Frieden alle Völker pilgern. In Jesus aber ist auch die Welt des Todes, ist sogar das Widergöttliche, die Schuld hineingenommen in den theophanischen Aufgang – und dies nicht nur auf die Weise der Verheißung einer endzeitlichen Überwindung, sondern bereits in der geschehenden Geschichte Jesu, die Anfang unserer Geschichte und Verheißung für sie ist. Nichts von Mensch und Welt bleibt draußen aus solch universaler Integration.

Doch auch nichts von Gott bleibt draußen. Was er in Jesus tut, tut er endgültig, er bindet seine eigene Zukunft, seine eigene Freiheit ein ins unwiderrufliche Ja und Amen, das Jesus ist. Dieses Ja und Amen verschlingt freilich nicht Gottes Zukunft und Freiheit in ein totes Perfektum hinein; aber die je offene Zukunft und Freiheit Gottes ist und bleibt Freiheit und Zukunft des ein für allemal gesprochenen Ja. Und gerade das macht die erregende Offenheit und Unabschließbarkeit der Geschichte dieses Gottes und mit diesem Gott aus. Wie auch die Geschichte einer menschlichen Liebe, auf die ich mich verlassen darf, an deren Treue ich nicht zu zweifeln brauche, offener, erregender, überraschungsreicher zu sein vermag als die Geschichte einer Liebe, die sich etwas vorbehält.

Gottes Freiheit ist drinnen in der totalen Integration. Und auch unsere eigene Freiheit. Der Zeuge der Theophanie wird von ihr beschlagnahmt, überfallen, enteignet – aber gerade dies läßt ihn allein, überfordert ihn. In Jesus hingegen ist unsere Freiheit, ist unser Innerstes und Eigenstes übernommen. Er spricht sein Ja zum Vater an unserer Stelle, in ihm ist uns vom Vater gesagt: Du bist mein geliebter Sohn. Natürlich trägt uns das die Schicksalsgemeinschaft mit Jesus ein, die einsamer und verlassener sein kann als Prophetenschicksal. Doch selbst solche Einsamkeit und Verlassenheit wird Communio mit Jesus. Übernommene Freiheit ist allerdings nicht ausgelöschte, sondern freigegebene Freiheit. Stellvertretung gängelt nicht, ersetzt nicht, sondern ermächtigt und setzt frei.

So ist die universale Integration nicht System eines sicher klappenden Heilsmechanismus. Christliche Erlösung ist nicht Apokatastasis, christliche Hoffnung mehr und anderes als eine Sicherheit, die sich in sich selbst beruhigt, weil ihr nichts mehr passieren kann. Sie ist Freigabe an den, der sich und damit alles gegeben hat.

Das Kriterium der Integration trägt in der Struktur der Wahrheit [112] Jesu das Kennmal der Universalität, das Kriterium der Steigerung jenes der „Einsetzung“. Indem Jesus den Vater allein verherrlicht und der Vater in ihm allein und ganz aufgeht, wird nicht nur alles zur Offenbarung und zur Stätte der Herrlichkeit, will sagen der Liebe des Vaters, sondern in letzter Konsequenz wird darin der Sohn vom Vater verherrlicht, wird er eingesetzt als der „Sohn“, mehr noch: tritt er an die Stelle des Vaters, wird er „Vater der neuen Schöpfung“. Gerade darin ist der Vater ganz groß, daß der Sohn gleich groß ist – und doch verschwindet der Vater nicht hinter dem Sohn, wird er nicht überflüssig im Sohn; das schlechterdings Unzerstörbare ist die Beziehung zwischen Vater und Sohn.

Dieses Verhältnis wiederholt sich im Verhältnis zwischen Jesus und uns. Nachfolge ist nicht nur Weggemeinschaft mit Jesus, sondern wird zur Seinsgemeinschaft mit ihm. Wir werden, was er ist. Wer ihm glaubt, darf die Werke tun, die er tut, ja noch größere als sie. Der Jünger wird zum „alter Christus“, und doch ersetzt der alter Christus den unus Christus nicht. Es gibt Nachfolge Christi, aber keinen Nachfolger Christi.

Integration als Universalität, Steigerung als Einsetzung, als Einholung des von der Theophanie Betroffenen in den theophanischen Aufgang selbst: solche Verwandlung der Kriterien macht sie zu Marken einer Geschichte, Wahrheit Jesu wird als Geschichte Gottes und als Geschichte mit Gott offenbar. Diese Geschichte Gottes und mit Gott aber enthüllt sich als Universal- und Menschheitsgeschichte.

Diese Geschichte ist eine Geschichte und ist doch alles eher als ein spannungsloses Kontinuum. Vor dem Ereignis der Integration und Steigerung begegnet der Abbruch, der Hiatus – im Leben Jesu wie in unserem Leben mit ihm. In diesem Hiatus aber geschieht gerade Beziehung, er ist der Freiraum, in welchem das Göttliche Gottes aufgeht, die Mitte des theophanischen Geschehens. Hier ist die Stelle des Pneuma, des Geistes. Er gewährt Einheit und Unterschied zwischen dem Vater und dem Sohn, zwischen Jesus und uns. In ihm geschieht Hingabe und Verherrlichung. Ein Letztes: in ihm will sich zwischen uns dieselbe Geschichte wiederholen wie zwischen Vater und Sohn, wie zwischen dem Sohn und den Söhnen: Einheit miteinander, wie der Vater und der Sohn eins sind (vgl. Joh 17,21).