Die Wahrheit Jesu

Verwandlung der Kriterien

Der Zukunft zur Disposition stellende Ereignischarakter suspendiert aufs erste Integration und Steigerung als Kriterien von Wahrheit. Gegen das theophanische Ereignis kann ich nicht die Frage ins Spiel bringen, ob alles, was ist, wenngleich verwandelt, bleiben dürfe. Der unbedingte Ursprung hat das unbedingte Recht zum neuen Anfang und zum radikalen Ende. Von mir, von meinem Zusehen und Erwarten her, von unten her gibt es keinen Einspruch gegen das Ereignis der totalen Krisis. Integration könnte nur als Restitution, Steigerung nur als neue Schöpfung, beides nur als Charis, als reine Gabe, von oben geschehen.

Hier macht sich nochmals der Unterschied zwischen philosophischer und religiöser Wahrheit geltend. Gegenüber einem philosophischen Anspruch muß ich mein Ja von der Prüfung abhängig machen, ob er alles, was ist und wahr ist, zu integrieren vermag, ja ob er auf alles, was ist und wahr ist, ein neues Licht wirft, mehr Licht wirft. [104] Dem theophanischen Ereignis gegenüber wäre solcher Rekurs Verfehlung. Religion, die sich als Mittel zur Selbstfindung oder Daseinssteigerung verstände, verlöre ihre Identität und geriete notwendig unter den Verdacht der Ideologie, der Projektion.

Zu den führenden Kriterien theophanischer Wahrheit werden somit Negation und Stimmigkeit. Negation: ich selbst, alles, was ist, findet sich betroffen, angegangen, in Frage gestellt vom theophanischen Ereignis. Darin erweist es sich als Aufgang des heiligen Ursprungs. Stimmigkeit: sein Aufgang bringt eine eigene, von außen schlechterdings unbeurteilbare Ordnung hervor. Nur wer sich auf sie einläßt, versteht sie. Sie ist absolut apodiktisch, nicht argumentativ vermittelbar. Sie rechtfertigt, läßt sich aber nicht rechtfertigen. Ja, sie vereint gerade das Gegensätzliche, vereint es jedoch konkret, nicht in spekulativer, aufhebender Vermittlung.

Sofern der Mensch das heilige Geheimnis an es selbst freigibt, sofern er alle Ansprüche und Erwartungen hinter sich läßt, sofern also sein Dasein in die Linie des soli deo einschwingt, gewinnen – unmachbar und unberechenbar – die suspendierten Kriterien der Integration und der Steigerung ihr neues Gewicht. Begriffe wie „Heil“ und „Erlösung“ sind religiöse Grundbegriffe; ihnen entspricht das religiöse Grundinteresse des Menschen. Dieses Interesse und seine Erfüllung kommen indessen paradox zum Zuge: Der Mensch muß sein Interesse verschenken, um seine Erfüllung sich schenken zu lassen. Integration und Steigerung, Restitution und neue Schöpfung, nicht nach des Menschen, sondern nach Gottes überbietendem Maß, sind in der Logik des Theophanischen stets der zweite Akt.