Fastenhirtenbrief 1994

Volk-Gottes-Theologie und Situation des einswerdenden deutschen Volkes

Ich komme zum fünften Schritt, zu dem, der das Ganze in unsere Situation hineinsetzt. Wir haben folgende Grobsituation: Das bloße System einer veranstalteten Gesellschaft von oben, durch Staatskapitalismus, wie der Papst den Sozialismus in „Laborem exercens“ genannt hat, schafft es nicht. Die Konstruktion eines bloßen Einsseins aus einer Ideologie schafft es nicht. Aber auch die Summe der Individualitäten, die bloß koaliert und schaut, wie sie Interessen durchbringt, und die sich allein aus Marktgesetzlichkeiten reguliert oder allein durch die technische Funktionalität, ich meine den Kapitalismus, schafft es nicht. Wo ist der Weg, der uns weiter führt? Wir müssen im Grunde lernen, Volk zu sein und zur Einheit des Volkes beizutragen. Einheit [51] des Volkes darf jetzt nicht im Sinn von Nationalität verstanden werden, oder des Blutes oder einer Ideologie, sondern die Einheit des Volkes wird bestimmt durch diese existentiellen Werte und Bedingungen, die ich eben genannt habe. Es braucht das Mysterium, wir brauchen ein Gemeinsames; es braucht das, was wir einen fundamentalen Wertekonsens nennen. Es braucht eine Communio im Sinne einer gegenseitigen Solidarität, die aber den einzelnen nicht auslöscht, wir brauchen ein gemeinsames und zugleich personales Eigentum, wenn ich so sagen darf. Und wir brauchen eine Botschaft, die wir in der Kommunikation nach außen selber mitbringen und in der wir selber eine universale Kommunikation über unser Volk hinaus einsteigen. Das sind die Strukturmomente des Volkes Gottes. Ohne daß wir deswegen jetzt sozusagen die Leute christlich vereinnahmen, zeigen uns die Strukturmomente, wie Zusammenleben als Volk, wie das Einswerden als Volk überhaupt möglich wird.

Ich möchte darauf mit zwei knappen Bemerkungen eingehen. Sie betreffen einmal die Situation unseres Volkes, gelesen aus Erfahrungen, wie sie hierzulande in den neuen Bundesländern gemacht werden, zum anderen die Einheit unseres Volkes, abgelesen an dem, wie wir gerade auch mit unserer Kultur und mit unserem Christentum im Westen leben. Beide Bemerkungen sind überspitzt.

Zum Osten. Wenn ein Zerstörendes zerstört wird, ist das noch nicht der Aufbau des Zerstörten. Zerstörendes wurde zerstört. Die Zerstörungen, die das Zerstörende hinterlassen hat, bleiben. Wenn ein Bösewicht andere madig macht und er gestürzt wird, bleiben die anderen madig. Und wenn einer andere umgebracht hat und er getötet wird, bleiben die anderen tot. Leben wir als Volk nicht in der ungeheuren gespentischen Nische zwischen den verlorenen Werten, die zerstört worden sind, und dem Verlust und der Zerstörung des zerstörerischen Systems? In dieser Nische muß neu die Einheit des Volkes aufgebaut werden. Die große Gefahr ist der Rückzug des Mißtrauens gegen die Systeme einerseits und gegen die verlorenen Ideen und die verlorene Geschichte andererseits. Deswegen ist es zu einfach, zu sagen: mach’s pragmatisch, mach’s wirtschaftlich und begnüge dich damit. Wir können so nicht Volk werden und sein. Wir brauchen in diesem Raum eine Erfahrung. Wir brauchen in diesem Raum eine Einheit, die gelebt ist. Wir brauchen in diesem Raum, ich wiederhole mich, eine soziale Ikone des Christlichen.

Zum Westen. Nicht mehr die Bilder sagen uns das Entscheidende, nicht mehr die Worte, sondern das Leben, das wir miteinander leben und das etwas von diesem dreifaltigen Gott spiegelt. Dann sprechen wieder die Worte und dann verstehen wir wieder die Bilder. Wie steht denn es bei uns im Westen dieses Landes mit dem Christentum? Wir stehen, wie mir Referenten meiner bischöflichen Akademie sagten, vor dem Phänomen der vollen Aula und der leeren Kapellen. Wir stehen in dem großen Hunger nach kunstgeschichtlichen Exkursionen, die Unzählige in die Kathedralen führen bei leeren Allerheiligstenkapellen. Ich habe gelegentlich den Eindruck, daß heute Religion und Christentum großenteils in der Bildungsgesellschaft des Westens unter dem Titel Recht auf Vergangenheit und Recht auf das Vergangensein der Vergangenheit geführt wird. Man lebt nicht mehr unmittelbar daraus. Man schätzt es, weil es dazu gehört hat. Es ist unsere Vergangenheit und wir haben ebenso das Recht drauf, daß das unsere Vergangenheit ist, wie daß sie vergangen ist. Viele wollen sich mit ihr nicht unmittelbar kompromittieren oder für sie engagieren.

Wir leben sozusagen beinahe ökologisch mit unserer Kultur in dem Sinn, daß wir eine große Müllhalde der verbrauchten Werte, Güter und Argumente haben. Und daß es sehr schwierig ist, ein Recycling zu veranstalten. Ich glaube, daß auch hier die einzige Möglichkeit der Vergegenwärtigung darin besteht, daß wir soziale Ikone sind, in der das, was uns verloren ist, in seiner gegenwärtigen Präge- und Wirkmacht wieder deutlich und sichtbar wird. Das aber bedeutet im Osten wie im Westen: „Plebs ex unitate patris et filii et spiritus sancti adunata: das Volk, das aus der Einheit des Vaters und des Sohnes und des Geistes geeint ist, das eine Volk Gottes“. Dieses Volk will nicht alle vereinnahmen, aber es zeigt auf, wie Leben in Einheit geht. Eigentlich ist es das, was wir unserer Gesellschaft, unserem Volk und seinem Einswerden schulden. Ein Katholikentag, der dem dient, ist hier in Dresden eigentlich ‘94 an der Zeit.