Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Vom actus necessarius zur natura necessaria

Was Unselbstverständliches im Begreifen des absoluten Daß als absoluten Geistes geschieht und wie dieses Begreifen in Schellings Sinn sich doch im ambivalenten Wesen der ersten Potenz verknotet, wird an dem Weg noch deutlicher, den Schellings „Andere Deduktion der Prinzipien der positiven Philosophie“1 vorschlägt. Auch er soll verkürzt auf seine wesentliche Struktur und zugleich erweitert in seine gedanklichen Anlässe referiert werden.

Das Denken beginnt hier unmittelbar mit dem ihm „allein Vorausgegebenen, dem unbedingten Sein oder Existieren“2. Die Weise, in welcher es die Was-Frage an es richtet, in welcher es das „unvordenkliche Sein“3 also denkt, hat hier jedoch einen eigentümlichen Akzent. Das Denken wird inne, den Gedanken des unvordenklichen Seins bzw. dieses selbst nicht aufs Geratewohl gesetzt, sondern eben: sich vorausgesetzt zu haben. Das heißt aber: es hat mit dieser Voraussetzung etwas als Denken getan, hat darin also etwas gewollt. Es will „die eigentliche Monas, d. h. das Bleibende, das über allem stehende Prinzip“4.

Dieser Wille ist uns auch auf dem Weg der 12. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung begegnet als das Movens allen Zweifels und aller Frage, in die das empirische Sein gerät und die ihrer- [244] seits doch nur leben aus dem Hinblick auf das „wahre Wirkliche“5 und somit aus dem Wissen ums wahre Wirkliche.

Dieses Wissen um die unzweifelhafte Voraussetzung des Denkens vor allem Denken artikuliert sich unmittelbar für Schelling in dem ekstatischen Gedanken: reine Existenz, Daß, Sein schlechthin. Die Was-Frage, in welcher das Denken dieses „Transzendente“ sich nun wieder „immanent“ macht oder, umgekehrt betrachtet, in der es sich selbst zu seinem ekstatisch Vorausgesetzten einholt, heißt hier nun nicht: Was habe ich gedacht, indem ich Unvordenkliches dachte? Sie lautet vielmehr: Ist das unmittelbar meinem Voraussetzen Entstandene, das bloße Daß, bereits das wahrhaft Wirkliche, ist es die reine Voraussetzung meiner selbst, ist es das schlechterdings Absolute, oder muß mein Gedanke auch noch hinter diese Unmittelbarkeit seiner Ekstase zurück?

Es geht also nicht um eine Rücknahme des Unvordenklichen ins bisherige, mit sich selbst befaßte Denken, sondern um die denkende Achtsamkeit auf die Lauterkeit des Undenklichen als eines solchen – und in ihr wird das Denken neu zu sich selbst ermächtigt6.

Diese Rückfrage des Denkens an die Lauterkeit seines Gedankens des Undenklichen ist vordergründig – und ihrer Durchführung nach auch im letzten Hintergrund – allerdings eine Rückfrage des Denkens ans Maß seines eigenen Wollens: Habe ich im unmittelbaren Gedanken des unvordenklichen Seins das Prinzip, die Monas, um die es mir geht, auch schon erreicht?

Der Vorgang des Denkens, in welchem diese Rückfrage geschieht, ist ein Experiment: Läßt sich nichts denken, von dem das Gedachte des ersten Experimentes, das reine Daß, aus seinem reinen Beruhen auf sich und Sich-Genügen hinweggedrängt, durch das es „in Bewegung“ gesetzt würde?

Diese „Bewegung“ hätte einen doppelten Effekt: einmal vermöchte das Denken von dem Urgedanken und Gegengedanken des bloßen Daß damit also doch wegzukommen, auszugehen, somit vom Prinzip auszugehen, das Prinzip also als solches und zu einem solchen zu haben: zum anderen würde aber die Erkenntnis des Prinzips selbst „gesteigert“: Prinzip ist nicht mehr das factum brutum [245] simpliciter, sondern jenes, was hinter diesem als seiner ersten Gestalt sich durch deren Bewegbarkeit (Potentialisierbarkeit) als es selbst erwiese. In solchem Erweis aber ist es „denkbarer“ als das factum brutum: es erweist sich, geht dem Denken zu, läßt sich auf und in es ein; und es ist zugleich „undenkbarer“: es bewährt sich gegen das es aufzuheben versuchende Denken, ist von sich her gegen es, über es und so gerade doch in ihm mächtig.

Doch gibt es einen solchen Gedanken, durch welchen das unvordenkliche Sein sich „potentialisieren“ läßt und der so in einem hinter es zurück und über es hinausführt?

Ja, es gibt ihn, und es ist der Gedanke, der das Denken ist, selbst und schlechthin: der Gedanke, der sich uns als die erste Potenz gezeigt hat, der Gedanke des „Seinkönnenden“, der Potenz als solcher7.

Indem das unvordenkliche Sein gesetzt ist, ist es per definitionem als allem Denken zuvorkommend gesetzt, als Prius allen Denkens und somit auch aller Potenz, als reine, nicht von einer voraufgehenden Möglichkeit her zu begreifende Wirklichkeit. Als solche ist sie indessen vom Denken gefunden und ist also das Denken, ist also die Möglichkeit selbst als nach ihr kommend gefunden. Indem das Denken, indem die Möglichkeit ansetzt, ist ihnen je das Sein schon da – „hier ist das Wort Dasein in seiner eigentlichen Bedeutung“8. Doch dieses Schon-Dasein des Seins, die „Ewigkeit“ der unvordenklichen Existenz9, ist für sich selbst nicht hell, ist also nur zufällig, ist und ist zugleich nicht, wenn nichts ist, woran und worin sie als solches aufgeht.

Dieses Woran und Worin ihres Vorkommens aber ist eben die die in ihr unmittelbar nicht gesetzte und nicht negierte, selbst also noch nicht vorgekommene „Möglichkeit schlechthin“, die Inhalt, Wesen, Sache des Denkens als solchen ist. Nur indem als ewig Zweites, indem also nicht ewig, aber „von Ewigkeit“10 die Urmöglichkeit, die Urlichtung, dem unvordenklichen Daß auftaucht, ist es von der blinden Notwendigkeit seiner selbst befreit, in welcher seine Zufälligkeit steckt11.

Das bloße Zuvorkommen der Wirklichkeit gegenüber ihrem Ge- [246] gensatz, der Möglichkeit, überwindet diese noch nicht, als bloße unvordenkliche Wirklichkeit ist diese der Möglichkeit noch gar nicht Herr. „Also eben in dem reinen Aktus als solchen ist etwas Zufälliges; das bloß actu notwendig Existierende, und bis jetzt haben wir nur ein solches, ist das bloß zufällig notwendig Existierende oder, wie wir es eben darum auch nennen können, das blind Existierende; das blind Existierende ist das bloß zufällig notwendig Existierende, welches darum das Seinkönnende nur als antecedens, aber nicht absolut ausschließt.“12

Wie aber wird diese Zufälligkeit des notwendigen Existierens im Auftauchen der zu ihr selbst doch auch ihrerseits wieder zufälligen Möglichkeit aufgehoben und überwunden? Und wohinein wird sie überwunden?

„Das nach der Hand auftretende Seinkönnen“ kann „doch nicht ohne Beziehung auf das bloß Seiende sein“13, ja das Denken und mit ihm das Seinkönnen finden sich nur an der Voraussetzung des unvordenklichen Daß, bezeugen es, wie gesehen, an sich selbst. So begreifen sie aber das unvordenkliche Daß als jenes, welches sie, welches das Denken, die Möglichkeit vermag und also ist, so „daß daher nicht etwa ein anderes, sondern nur dasselbe, was das bloß Existierende ist, auch die potentia existendi sein kann, welche sich jenem entgegenstellt“14.

Damit sind wir auf eines gestoßen, das von sich her zuerst das unvordenkliche Existierende ist, das zugleich aber und in der Ordnun seines Sich-Findens – das nur im Lichte der Möglichkeit statthaben kann – das Seinkönnende, damit aber wiederum zugleich das „zwischen beiden frei als Geist Schwebende“ ist15.

Das heißt: das bloß unvordenklich Existierende ist zwar die erste Gestalt des Prinzips, der Monas, aber nicht schon sie selbst. Diese erste Gestalt ist zwar das absolute Prius, das schlechterdings Voraussetzungslose, aber es ist auf ein nach ihm Kommendes verwiesen, an dem es sich zu sich selbst vermittelt und erhebt. Es selbst ist darin „nicht mehr das bloß actu notwendig Existierende, sondern nur noch das wesentlich, d.h. das notwendig notwendig Existierende, die natura necessaria …, die auch unabhängig vom wirklichen [247] Existieren, vom actus des Existierens, das notwendig Existierende ist, nämlich ihrer Natur oder ihrem Wesen nach“16.

Was das Denken, solange es von sich, von seinem Inhalt ausging, als bloße Idee fand: das Wesen absoluten Geistes, das findet es nun als wirklich, indem es von dem unvordenklichen Existieren ausgeht, sich selbst als seinen Begriff, als seine Erhebung in die wirkliche Idee verstehend17.

Die Entsprechung des hier entwickelten Gedankens zu dem der 12. Vorlesung der Philosophie der Offenbarung scheint – trotz anderem Ansatz und Vorgehen – auf der Hand zu liegen. Wir haben indessen bislang ein wichtiges Glied des Gedankens eingeklammert, welches aufs erste diese Entsprechung aufhebt:

Das Auftauchen des Seinkönnenden als alterierenden Gegensatzes zum unvordenklichen Existieren ist von Schelling beschrieben als die Möglichkeit anderen Seins. In der zuvor bedachten Vorlesung ging es darum, den unbedingten Geist gerade zunächst ohne Hinsicht auf ihm künftiges Sein mit Hilfe der Potenzen zu begreifen, hier wird diese Hinsicht das Gelenk des Gedankens, wird sie dafür entscheidend, daß das absolute Prius als absoluter Geist uns und sich selbst begreiflich sei.

Gleichwohl geraten beide Gedankengänge wieder in Einklang, wenn wir auf die Fortsetzung der 12. Vorlesung in der 13. achten: Dort geht uns als das Begriffene des Sich-Begreifens des absoluten Actus an der Möglichkeit seines Anderen die Freiheit von und zu dem Anderen auf: sie ist material das, was formal natura necessaria heißt.

Von der Struktur des Gedankens her versteht sich das von uns zunächst „Eingeklammerte“ von selbst: Möglichkeit ist als solche nur da, wo sie als Möglichkeit eines in ihr Möglichen und also durch sie selbst nicht schon Wirklichen verstanden wird. Die 13. Vorlesung zeigt nun, daß das in der 12. entworfene – rein in sich gewandte – Sein des absoluten Geistes in den noch nicht „potentiellen“ Potenzen erst hervorkommt und ins Bewußtsein tritt, indem am Wesen, am reinen An-sich die Möglichkeit des Anderen sich zeigt18.

[248] Dieses Auftauchen der Möglichkeit des Anderen ist aus dem unvordenklichen Sein nicht „abzuleiten“, es ist der „Ureinfall“ Gottes selbst, das „nur nicht Auszuschließende, von selbst, d. h. ohne seinen Willen sich Einstellende, Einfindende“19: die reine Verhaltenheit, das reine Ansichhalten des Geistes ist Potenz auch seines Aufbruchs nach außen, der Imaginierung seines Anderen, aber als solche erscheint sie erst, indem sie eben „sich zeigt“, und nur indem sie sich zeigt, zeigt sich der Geist sich selbst als Geist, als frei von und zu seinem Anderen und so gerade auch frei von und zu sich selbst.

Der starke Ausdruck Schellings hierfür beschäftigte uns bereits: „diese Erscheinung der ersten Möglichkeit eines von ihm selbst verschiedenen Seins setzt ihn zuerst in Freiheit gegen die Notwendigkeit seines unvordenklichen Seins, das er sich nicht selbst gegeben hat … indem sie ihn von jener heiligen zwar und übernatürlichen, aber unverbrüchlichen Ananke befreit, in deren Armen er gleichsam zuerst empfangen worden“20.

Die Bestimmungen, die dem Denken unterliefen, indem es vom bloßen actus necessarius auf die natura necessaria zudachte, klären sich so. Sie sind: „1) das unvordenklich Seiende, 2) das ein anderes sein Könnende, 3) das zwischen beiden frei als Geist Schwebende“21.

Sie bezeichnen zunächst nicht die Potenzen als solche: rein Seiendes, Seinkönnendes, Subjekt-Objekt. Vielmehr ist unvordenkliche Existenz der unmittelbare Status des Seins des absoluten Prius, das Seinkönnende allerdings die Potenz schlechthin, an welcher aber dieses absolute Prius als selbst über sich hinaus offen aufgeht, und so zum zwischen beidem frei schwebenden Geist als dem endgültigen und göttlichen Status absoluten Seins, besser: absoluter Natur hinführt.

Indem aber der absolute Geist sich zu den drei bezeichneten Status frei verhält, sind sie ihm das Wesen, jenes, in welchem er sich gehört und alles vermag, sie werden also in der Tat zu seinen Potenzen. Der absolute Geist, der sie als seine Potenzen hat und der so in und über ihnen, frei von ihnen, frei von und zu sich und frei von und zu seinem Anderen ist: dieser ist der Herr des Seins, ist, in Schellings Sinn, der göttliche Gott22.


  1. XIV 335–356. ↩︎

  2. 338. ↩︎

  3. Ebd. ↩︎

  4. Ebd. ↩︎

  5. XIII 242. ↩︎

  6. S. XIV 337–339. ↩︎

  7. 337–339. ↩︎

  8. 354. ↩︎

  9. Vgl. bes. 342. ↩︎

  10. 342. ↩︎

  11. Vgl. 347. ↩︎

  12. 338. ↩︎

  13. 339. ↩︎

  14. Ebd. ↩︎

  15. Ebd. ↩︎

  16. Ebd. ↩︎

  17. Vgl. 348. ↩︎

  18. Vgl. bes. XIII 263/65, 267/69. ↩︎

  19. XIII 264. ↩︎

  20. XIII 268. ↩︎

  21. XIV 339. ↩︎

  22. Vgl. bes. XIII 269/70. ↩︎