Theologie als Nachfolge
Von der Nachfolge zur reflektierten Nachfolge
Im Gespräch mit Bonaventura – das hat der erste Hinblick auf seine Gestalt, seinen Kontext und seinen Ansatz wohl gezeigt – sind wir durchaus in unserem Eigenen, in unserer Situation betroffen. Zum Gespräch gehört aber, daß man sich, ausdrücklich oder zumindest stillschweigend, nicht nur über die Situationen der Partner, sondern auch über eine gemeinsame Sache verständigt. Die gemeinsame Sache ist in unserem Falle die Sache des Glaubens und der Theologie, die Sache des Glaubens als Sache der Theologie. Versuchen wir, zwar im Vorblick auf Bonaventura, aber bewußt einmal in Abhebung von ihm, zunächst diese Sache selbst anzuvisieren, ihr Vorverständnis zu entwerfen und dieses Vorverständnis sodann ins Gespräch mit ihm einzubringen. Die Sache christlichen Glaubens, Gottes Offenbarung in Jesus Christus, kennen wir nur, weil Menschen ihm geglaubt haben, weil Menschen ihm nachgefolgt sind. Geschichtlich gibt es das Evangelium ohne Nachfolge nicht.1 Nachfolge ist die Erschließungs- und Vermittlungssituation für das Evangelium; sie kommt nicht als äußere Zutat zu diesem Evangelium hinzu, sondern formuliert sich in seinen Text und in seinen Inhalt hinein – und dies keineswegs im Sinn einer Verderbung und Verdünnung des Urtextes, sondern als eine für ihn selbst konstitutive, aus ihm nicht herauszulösende Dimension. Das Evangelium ist nämlich von sich her Ruf zur Nachfolge, und nur wo dieser Ruf verstanden und angenommen wird, ist er, was er von sich selber her sein will. Die „Veränderung“, die dieser Ruf dadurch erfährt, daß er wiedergegeben wird aus der Perspektive der Nachfolge, ist jene „Veränderung“, welche die Quelle dadurch erfährt, daß ihr das Wasser entspringt. Anders gewendet: Wie eine heimliche Liebe, indem sie sich bekennt, eine neue Situation zwischen den Partnern schafft, so verändert das Evangelium, indem es ergeht, seine eigene Situation – und das hat es mit allem Ursprungsgeschehen gemein. Evangelium gegenwärtig in der Nachfolge, formuliert aus ihr, das ist Theologie [27] in ihrer ersten Potenz; denn es ist denkendes, weil bekennendes, neu formulierendes, sich am Evangelium verantwortendes Verhältnis zum Evangelium.
Doch worin liegt der Grund dafür, daß Nachfolge eine andere Situation fürs Evangelium schafft und somit das Evangelium verändert? Antwort: In der Nachfolge wird die Situation des Evangeliums zur Situation eines anderen, dessen, der nachfolgt. Er bringt sich selber, seine Erfahrung, seine Welt, sein Verhältnis zu sich und allem in das Evangelium ein. Indem er das Evangelium bekennt, bekennt er sich, sagt er selber sein Eigenes und Persönliches mit aus. Damit aber erhält das Evangelium prägende, bestimmende Macht über den Menschen und seine Welt, es wird zur Interpretation nicht nur des Gottes, von dem es kündet, sondern auch zur Interpretation des Menschen, dem sein Ruf gilt. Dies aber, Evangelium als Interpretation des Menschen und seiner Welt, ist Theologie in zweiter Potenz, und diese zweite Potenz ist streng gleichzeitig mit der ersten, läßt sich von ihr so wenig trennen, wie sich Nachfolge vom Evangelium trennen läßt. Doch in der zweiten ist bereits die dritte Potenz von Theologie mitgesetzt. Das Evangelium kommt zur Gegebenheit in der Nachfolge, wird interpretiert durch die Nachfolge. Die Existenz des Nachfolgenden und seine Welt werden interpretiert durch das Evangelium. Also verifiziert das Evangelium Existenz und Welt und verifiziert die Existenz durch ihre Nachfolge das Evangelium. In einem und demselben Geschehen, im Geschehen der Nachfolge, kommen das Evangelium und die Existenz zu sich selbst, indem sie zueinander kommen. Der Sprung des Evangeliums über sich hinaus und der Sprung des Nachfolgenden über sich hinaus schaffen eine Synthese, in der das Evangelium allererst ist, was es ist; aber auch der Nachfolgende erkennt und bekennt, daß er und seine Welt allererst vom Evangelium her sind, was sie sind. Wo solches Ineinander und Füreinander des Evangeliums und des Menschen kraft der Nachfolge, wo solche gegenseitige Interpretation und Integration sich selber hell sind, da erst ist Theologie im vollen Sinne da. Theologie in ihrer ersten Potenz heißt also: Nachfolge reflek- [28] tiert das Evangelium. Theologie in ihrer zweiten Potenz heißt: Durch die Nachfolge reflektiert das Evangelium den Menschen und die Welt. Theologie in ihrer dritten Potenz heißt: Das Evangelium einerseits, Mensch und Welt andererseits reflektieren sich gegenseitig, dies aber ist reflektierte Nachfolge. An diesem Punkt der Integration liegt freilich auch der Punkt möglicher Krise der Theologie. Daß Nachfolge das Evangelium wirklich in sich auf-hebt, will sagen in all seinen Dimensionen integriert und zu seiner Vollgestalt steigert, und daß zugleich Wirklichkeit und Wesen des Menschen und der Welt auf-gehoben, also wiederum unverkürzt eingebracht und gesteigert sind im Evangelium, das zu zeigen ist nach dem Ausgeführten die Aufgabe der Theologie. Die Integrationskraft des Evangeliums, das als ganzes Evangelium die Nachfolge mitumfängt, die unüberbietbare Einholung des ganzen Gottes und des ganzen Mensch- und Weltseins im vollzogenen Evangelium, das ist zugleich das entscheidende Kriterium für die Wahrheit und Glaubwürdigkeit der Offenbarung. Doch genau hier stellt sich die kritische Frage: Woher nimmt der theologische Vergleich, das theologische Urteil: daß hier sowohl das Evangelium in der Nachfolge wie Mensch und Welt im Evangelium aufgehoben sind, woher nimmt also die in reflektierter Nachfolge beschlossene Reflexion ihren Maßstab? Ist der Maßstab solcher Synthese ein höheres Drittes gegenüber dem Evangelium und der Nachfolge einerseits und der Welt und dem Menschen andererseits? Und wenn es solch ein höheres Drittes wäre, fiele dieses Dritte dann nicht doch wiederum auf das Selbstverständnis des Menschen zurück? Denn woher sonst als von sich selbst, als von seinem Denken könnte der Mensch den Maßstab gewinnen, um im Denken sich und sein Anderes zu messen? Gewiß, die Synthese kann nicht von einem archimedischen Punkt jenseits des Denkens gewonnen werden. Aber das Denken selbst kann innerhalb der Nachfolge sich nicht über das Evangelium nicht über den stellen, unter dessen Anspruch es sich gerufen weiß! Der Ort der Theologie ist notwendigerweise die Nachfolge selbst Nachfolge freilich, die das Denken als Denken und somit als sich [29] verantwortendes Denken in Gehorsam nimmt, so aber in die Nachfolge hinein integriert. Theologie ist dort Theologie, wo Nachfolge selber zum Ort ihrer eigenen Reflexion und wo Reflexion zum Vollzug der Nachfolge wird. Ohne solch ärgerliche Unterscheidung des Theologischen löst dieses sich auf, ohne Integration des Denkens in der Nachfolge aber verengt sich diese, unterbietet sie ihr Maß.
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Nachfolge hat hier und im folgenden zwar die engste Anwendung dieses Begriffs auf die Jesus begleitenden Jünger im Blick, doch werden die Linien bewußt weiter ausgezogen zu gläubiger Existenz überhaupt als Nachfolge. ↩︎