Theologie als Nachfolge
Von der Produktivität zur Liebe, aus der Liebe zur Produktivität
Der Standort Bonaventuras, von dem aus er seine theologische Logik entwickelt, ist einerseits der heilsgeschichtliche, dessen offenbare Voraussetzung die sich grenzenlos verschenkende Liebe Gottes ist, andererseits die Logik der Produktivität, die er als Instrumentarium ins Bedenken dieser Liebe einbringt. In der Reductio können wir nun den Vorgang beobachten, wie sich bei ihm diese Logik der Produktivität aufsprengt in die integrative Dimension der Liebe. Er zeigt sich im Zusammenhang seiner Erörterung über die mechanische Kunst, die für ihn den Inbegriff von Handwerk und bildender Kunst bezeichnet. „Der Künstler schafft das äußere Werk, das er im höchstmöglichen Maße angleicht an seine innere Idee; und wenn er ein solches Werk schaffen könnte, das ihn selber liebte und erkännte, gewiß würde er es schaffen; und wenn jenes Werk seinen Urheber erkännte, so geschähe das durch Vermittlung jenes Gleichbildes, jener Idee, gemäß der es vom Künstler hervorging; und hätte es verdunkelte Augen der Erkenntnis, so daß es sich nicht über sich selbst erheben könnte, so wäre dazu, daß es zur Erkenntnis seines Urhebers gelangte, erforderlich, daß diese Idee, durch die das Werk geschaffen wurde, mitabstiege bis zu jener Seinsweise, die von diesem Werk erfaßt und erkannt werden könnte.“1 Der innere Zug des Schaffens, das Worumwillen der Produktivität erscheint hier als die Gemeinschaft, als die Gegenseitigkeit, als das Füreinander zwischen Schöpfer und Werk; es geht nicht um eine Nivellierung und doch um eine Aufhebung der „vertikalen“ Struktur des Kausalitätsdenkens in die „horizontale“ der Kommunikation. Und diese Kommunikation, das Dasein für das Andere, reicht bis zu jener „Torheit“, in welcher die eigene Mitte des Produzierenden sich entäußert, sich dynamisiert und einläßt auf das Niveau des Produktes. Wäre die erste Stufe, das Drängen nach einem Werk, mit dem Gemeinschaft möglich ist, noch lesbar auf den Selbstgewinn und die Selbststeigerung des Wirkenden, so wird diese Dimension aufgehoben, über sich hinausgehoben in der Leidenschaft fürs [83] Andere, die sich in dieses Andere hinein entäußert: hier geht es nur um das Selbst, indem es um das Andere selbst und um die Gemeinschaft selbst geht.
Die Dynamisierung dieser Mitte tritt noch schärfer an einer weiteren Stelle desselben Werkes hervor.2 Die Mitte, die das ganze Geschehen von Produktion und Kommunikation vermittelt, der Sohn als die Vorbildursache, die sich im Erlösungsgeschehen selbst hineinbildet in die Schöpfung, tritt in zweifacher Position, tritt mit je anderem Schwerpunkt im Geschehen auf: im Ausgang der Schöpfung von Gott steht sie mehr auf der Seite Gottes, im Rückgang, in der Heimholung zu Gott, mehr auf der Seite des Geschöpfes. „Die Mitte im Ausgang muß sich mehr auf die Seite des Schaffenden, die Mitte im Rückgang hingegen mehr auf die Seite des Rückkehrenden halten; wie die Dinge von Gott ausgingen durch Gottes Wort, so ist es zur vollkommenen Rückkehr notwendig, daß der Mittler zwischen Gott und den Menschen (1 Tim 2, 5) nicht nur Gott sei, sondern auch Mensch, um die Menschen zurückzuführen zu Gott.“
Der theologische Ansatz Bonaventuras bei der Mitte hat demnach – so läßt sich zusammenfassend sagen – seine Logik gerade darin, daß diese Mitte geschichtliche, geschehende, bewegliche Mitte ist: Mitte, in der sich die Bewegung Gottes zu sich und die Bewegung Gottes über sich hinaus zu seinem Anderen, Mitte, in der dieses Andere sich in seinem Bestand, in seiner Entfernung vom Ursprung und in seiner Rückkehr zum Ursprung ausdrückt und vermittelt. Jesus Christus wird so im Sinn einer bonaventuranischen Theologie je zu lesen sein auf die Geschichte der Liebe, die sich in ihm als die Geschichte Gottes mit Gott, als die Geschichte Gottes mit dem Menschen, als die Geschichte des Menschen mit sich und als die Geschichte des Menschen mit Gott begibt. Freilich hat in einem noch anderen Sinn die Logik Bonaventuras, die Logik des Ansatzes aus der Mitte eine Geschichte: die Geschichte im Denken Bonaventuras selbst, eine Geschichte, die sich nicht im Nacheinander verschiedener Phasen, vielmehr in der inneren Bewegtheit bonaventuranischen Denkens in jeder seiner [84] Phasen ausdrückt. Wie das Ziel, wie die Logik der Liebe bereits in seinem Frühwerk, in der Reductio, die Logik der Produktivität durchformt, haben wir beobachtet. Eine Kurzformel dieser inneren Durchdringung, des inneren Gangs von der Produktivität zur Liebe, finden wir im Spätwerk, im Hexaemeron. Dort wird die Vollkommenheit göttlichen Seins in vier Graden ausgesagt, von denen jeder Grad die Integration des niederen im Sprung darstellt. Vollkommenheit (perfectio), vollkommene Hervorbringung (perfecta productio), hervorbringendes Verströmen (productiva diffusio), verströmende Liebe (diffusiva dilectio).3 Vollkommenheit, vom Sein als Bestand her gedacht, legt sich ihm aus als Genese, die ihrer selbst und darin ihres Anderen mächtig ist (Produktivität); solche Produktivität wird ihrerseits erst vollkommen, wo sie nicht etwas herstellt, sondern sich aus sich heraussetzt, sich jenseits von sich selbst mächtig sein läßt, sich eben verströmt. Verströmen aber meint nicht ein Sich-Verlieren oder die Kunst, sich im Jenseits seiner selbst gerade nicht zu verlieren, sondern jene Bejahung, die, indem sie sich selber gibt, gerade das Andere an sich selber freigibt, es selbst freisetzt und bejaht. Daß diese innere Logik, dieses Sich-zur-Spitze-Treiben konsequent ist, wird vom Ende her durchsichtig, vom Ende her geht die „Möglichkeit“ solcher Steigerung-im-Sprung auf; aus dem bloßen Beginn, aus der bloßen metaphysischen Spekulation des Bestandes, aber auch der Produktivität läßt sie sich nicht herausrechnen. Eine Logik, die von der Liebe aus des Paradoxes, des Sprungs, der Unableitbarkeit fähig und mächtig ist, zerbricht so nicht den Zusammenhang zwischen Gott und Sein, zwischen Theologie und Philosophie, zwischen Heilsgeschichte und Metaphysik, sondern wahrt, klärt und ermöglicht ihn, ohne die Pole ineinander hinein zu nivellieren. Solche Logik ist der Unterscheidung des Christlichen und Theologischen wie seiner Einheit mit dem Menschlichen und Philosophischen zugleich mächtig.