Sprache des Glaubens. Zum Text „Von Gott sprechen“: Wie heute von Gott sprechen?
„Von Gott sprechen ist Prozess des Sich-Einsmachens; denn so spricht Gott.“
Hadwig Müller:
Was heißt „sich einsmachen“? Ein erster Anhaltspunkt ist das Wort „Prozess“. Dieser zielt nicht etwa darauf hin, ein Einssein hervorzubringen, in dem es kein „ich“ und „du“, kein „er“ oder „sie“, keine Welt mehr gäbe. Denn ein solches Einssein wäre das Ende jeder Beziehung und das Ende von Leben überhaupt. Stattdessen ist das Sich-Einsmachen eine Bewegung, die der Verwandlung des Lebens dient. Die Weisung, die Hemmerle im ersten Unterpunkt (I/1) gibt, lautet: „Mach dich eins mit dem Wort, bis es dein Leben ist; mach dich eins mit den anderen, bis sie dein Leben sind.“ Der Abstand zwischen dem Wort und meinem Leben, zwischen den anderen und meinem Leben bleibt. Nur so geht der Prozess des Sich-Einsmachens weiter.
Dieser nicht endende Prozess hat ein anderes Leben zum Ziel. Wenn das Wort immer mehr zu meinem Leben wird, wenn die anderen immer mehr zu meinem Leben werden, ist dann mein Leben nicht mehr nur mein Leben, mir so selbstverständlich wie mein Atmen. Dann ist es mehr als meine nur mir bekannte Weise, am Leben zu sein. Wenn ich mein Leben dem Wort öffne und den anderen, dann stimme ich nicht mehr so einfach wie vorher mit mir überein. Es tut sich ein Abstand auf zwischen Leben und Leben. Eine Idee von diesem Abstand gibt mir das Johannesevangelium.
Sein Leben geben, damit Menschen das Leben in sich haben: das ist, auch formal, die Mitte des Johannesevangeliums. Die Übersetzungen haben immer ein und dasselbe Wort: „leben“. Im griechischen Urtext aber stehen zwei Worte: psyché und zoé. Die jeweiligen Zusammenhänge lassen klar erkennen: Psyché ist das Wort für das Leben im Sinne des physischen Lebens, das irgendwann zu Ende geht, für das schlichte Am-Leben-sein. Zoé ist das Wort für ein Leben, das die Quelle von Lebendigkeit in sich selber trägt.
Um dieses Lebens willen weiß Jesus sich gesandt (vgl. Joh 10,10): Damit Menschen ein Leben in Überfülle haben, das aus einer eigenen inneren Quelle fließt (zoé), ist Jesus bereit, sein Leben (psyché) zu verlieren. Er hängt nicht daran, am Leben zu sein – und gewinnt so das Leben in Überfülle, das er für alle Menschen will. Dieser Gewinn einer unerhörten Lebendigkeit verdankt sich der Bereitschaft, das eigene Am-Leben-sein nicht für alles zu halten. Nicht daran festzuhalten. Im Christushymnus des Philipperbriefs heißt es: Er hielt nicht daran fest, Gott gleich zu sein. (Phil 2,9) Und Hemmerle ergänzt seinen Satz: „Von Gott sprechen ist Prozess des Sich-Einsmachens“ und fügt hinzu: „denn so spricht Gott“. Sich-Einsmachen ist gleichbedeutend mit Von-sich-Weggehen. „Denn so spricht Gott“!
Sich-Einsmachen mit dem Wort, mit den anderen, heißt: Ich gehe weg von mir selber. Ich soll mir nicht genügen. Was ich kenne und was ich weiß, soll mir nicht genügen, mein eigenes Sprechen soll mir nicht genügen. Ich soll andere Stimmen kennenlernen (I/2). Ich soll Situationen kennenlernen, in denen ich keine Antwort weiß. Ich soll in der Fremde, in der Ungültigkeit meiner Antworten ankommen (I/4), ich soll auf das Wort des anderen warten (I/5). Ein solches Weggehen von mir selbst eröffnet die Möglichkeit eines Ereignisses, mit dem etwas Unerhörtes, etwas Nicht-Erwartbares in die Wirklichkeit eintritt.
Es kann sein, dass die mir fremden Stimmen von Christus zu reden beginnen, wenn ich sie in mein Leben lasse (I/2). Es kann sein, dass Christus in mir eine Antwort gibt, wenn ich in Situationen hineingehe, in denen ich keine Antwort weiß (I/4). Es kann sein, dass der andere, dem ich das erste Wort lasse, ohne mich Gottes „erstes Wort“ hört (I/5). Jedes Mal ereignet sich etwas, was wie ein Überfließen dieser Lebendigkeit ist, die jene Menschen in sich tragen, die ihr Leben immer mehr dem Wort und den anderen öffnen.
Hemmerles Sätze rufen bei mir Szenen wach, die in den Evangelien erzählt werden. Um das Kennen geht es im Hirtenwort: „Wer durchs Tor hereinkommt, der ist Hirt der Schafe. Dem öffnet der Torwächter. Und die Schafe hören auf seine Stimme. Und er ruft seine Schafe Namen um Namen, und führt sie hinaus. Wenn er die Seinen alle hinausgetrieben, geht er vor ihnen her. Und die Schafe folgen ihm; denn sie kennen seine Stimme.“ (Joh 10, 2-4)
Christus kennt jeden Menschen und ruft ihn, ruft sie bei ihrem Namen. Er kennt jede Stimme; und die Schafe kennen die Stimme ihres Hirten. Anders als dieser Hirte kennen wir – Pastorinnen und Pastoren – nicht jede Stimme. Wenn wir dem Hirten ähnlich sein wollen, müssen wir alles tun, um die uns unbekannten Stimmen kennenzulernen! Denn sie kennen den einen Hirten: Christus. Auf sie müssen wir also zu hören lernen! Und darauf, was sie uns von Christus sagen!
Wenn ich höre, wie mir Stimmen von Christus zu reden beginnen, von denen ich meinte, dass sie ihn gar nicht kennen, werde ich voller Staunen sein. Und wenn ich mein Staunen ausdrücke, wird das Wort, das ich dann sage, sowohl von mir als auch vom anderen sprechen – und so wird es von Gott sprechen. „Nur das Wort sagt IHN, das mich und die anderen sagt.“ (I/3)
Die Evangelien erzählen immer wieder, wie Jesus einem Mann, einer Frau begegnet, die seine jüdische Tradition zu glauben nicht kennen. Sie „glauben“ einfach nur, dass er ihnen ein Mehr an Leben ermöglicht. Und Jesus sieht ihren „Glauben“ voller Staunen und drückt sein Staunen aus: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ Dieser Ausruf Jesu spricht von ihm – von seiner staunenden Entdeckung; er spricht vom anderen – von seinem oder ihrem „Glauben“; und er spricht von Gott – weil dieser „Glaube“, diese Sehnsucht nach einem Mehr an Leben, Gott bezeugt als denjenigen, der nichts Anderes will als das Leben.
Das Staunen ereignet sich in mir wie von selber. Ich muss es nur zulassen. Das Staunen zuzulassen ist ein Akt des Weggehens von mir selber. Radikaler ist dieser Akt des Weggehens von mir selber, wenn ich in den Schmerz, in die Ohnmacht der Verzweiflung hineingehe. „Gehe dorthin, wo du keine Antwort weißt – dann kann ER sie geben; vielleicht in dir.“ (I/4) Im Markusevangelium ist das letzte Wort Jesu am Kreuz der Schrei dessen, der keine Antwort weiß – und seine tiefe Ohnmacht Gott anvertraut, so wie es der Beter von Psalm 22 tut: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,33-34). Das Ereignis einer Antwort inmitten dieses radikalen Nichtwissens bleibt verborgen in der Unsicherheit des eigenen Innern: „vielleicht in dir.“ Aber auch dieser verzweifelte Ausruf des eigenen Nichtwissens ist Sprechen von Gott!
Das Sich-Einsmachen mit dem Wort und mit den anderen setzt voraus, dass ich von mir weggehe: indem ich das Staunen – und indem ich die Verzweiflung zulasse. Und indem ich daran arbeite, ein Handeln nicht zuzulassen, das einfach naheliegt: Es liegt nahe, dass ich mich überwiegend auf jene Menschen zubewege, bei denen ich eine Gemeinsamkeit vermute, und andere vermeide, weil sie mir fremd sind. Und es liegt nahe, besonders für Verantwortliche in der Pastoral, den Anfang mit dem Sprechen zu machen. Sich-Einsmachen mit dem Wort und mit den anderen verlangt, sich in diesem Punkt zurückzuhalten: „Nur, wenn der andere das ‚erste Wort‘ hat, kann er Gottes ‚erstes Wort’ wahrnehmen.“ (I/5)
Auch dieser Punkt ruft eine Szene wach, die im Markus- und im Lukas-Evangelium erzählt wird. Ein Blinder, der dort sitzt, wo Jesus vorbeigeht, ruft ihn. Darauf fragt Jesus: „Was willst du, dass ich dir tue?“ (Mk 10,51; Lk 18,41) Jesus lässt nicht zu, dass sein Wissen vom anderen diesen auf das reduziert, was er von ihm weiß. Seine Frage erlaubt dem Blinden, das erste Wort zu haben: „etwas erblicken möchte ich wieder“. Und es ereignet sich, dass er zu einem Sehenden wird. Er hört Gottes „erstes Wort“: „Geh, dein Glaube hat dich gerettet.“ (Mk 10, 52)
„Von Gott sprechen ist Prozess des Sich-Einsmachens; denn so spricht Gott“: So lautet Hemmerles erster Satz. Und nun der zweite: „Nur Gott spricht gültig von Gott. Dass ER spricht, ist deine Sache.“ Wenn der erste Satz so verstanden werden kann: „Von Gott sprechen heißt von sich weggehen“, so scheint der zweite Satz in die entgegengesetzte Richtung zu deuten: „Von Gott sprechen heißt, sich selbst zu sagen.“