Die Wahrheit Jesu

Vorbegriff von Wahrheit

Auch in jenen Verständnissen von Wahrheit, deren Spannung zum Anspruch Jesu und seiner Wahrheit uns auffiel, steckt ein „Überschuß“, ein reicheres Vorverständnis von Wahrheit, das sich in den unmittelbar und ausdrücklich gegebenen Elementen der jeweiligen Theorie nicht erschöpft.

Im Fall Descartes' liegt dies auf der Hand; sein Gedanke ist in sich [97] selbst und für ihn selbst differenzierter und hintergründiger, als dies die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte vermuten läßt. Hier sei nur an ein in unserem Kontext besonders wichtiges Motiv erinnert. Das „clare et distincte“ ist für Descartes untrügliches Kriterium der Wahrheit einer Erkenntnis. Endliches Denken steht unter der Notwendigkeit, alle Möglichkeiten des Zweifels und Irrtums aufzuarbeiten, bis offen wird: Anders kann es nicht sein, also ist es eindeutig so. Darin wird es zugleich seiner eigenen Relativität und der Absolutheit eines Ersten inne, das sich als wirklich bezeugt, will sagen lichtet und im Denken durchsetzt. Wahrheit ist so die Mächtigkeit der Wirklichkeit im Denken und übers Denken.

Weniger reflektiert – vielleicht darf man sagen: gegen das eigene System wirksam – ist im kritischen Rationalismus ein ähnlicher Überschuß der Wahrheit über ihre Faßbarkeit zu verzeichnen. Denn wenn es keine letzten Wahrheiten geben darf und das Denken im je neuen Fassen der Wahrheit immer weiterschreiten muß, dann lebt dieses Denken doch vom Limes einer Entsprechung und somit von einer rufenden Mächtigkeit der Wirklichkeit, die das Denken herausfordert und grundsätzlich sich ihm aufschließt. Und dann gibt es auch nicht nur die eine letzte Wahrheit, daß es keine letzte Wahrheit gibt, sondern auch die andere, daß die letzte Wahrheit die anziehende und herausfordernde Macht in jeder vorletzten ist.

Wenn eine – vielfältige Zwischenüberlegungen auslassende – Schematisierung einmal erlaubt ist: In den beiden herangezogenen Verständnissen von Wahrheit lassen sich drei Momente herausschälen. Einmal ist Wahrheit Offenheit der Wirklichkeit im Denken; Wirklichkeit ist so, daß sie grundsätzlich sich ins Denken hinein auslegt, im Denken aufgeht und anwesend ist. Zum anderen hat das Denken kraft dieser Offenheit der Wirklichkeit einen Verantwortungscharakter; es muß sich der Wahrheit anmessen, ihr annähern, an ihr sich ausweisen. Schließlich ist menschliches Denken endliches Denken, endliches Denken, das in der Entsprechung zugleich seiner eigenen Nichtentsprechung gewahr wird; Wahrheit ist Offenheit der Wirklichkeit im Denken, menschliches Denken aber ist immer nur begrenztes Offenliegen dieser Wirklichkeit, allerdings dergestalt, daß in ihm die eigene Begrenztheit selber offenliegt.

Die gezeichneten Momente reißen in etwa eine Tiefenstruktur des Wahrheitsverständnisses auf, in welchem der Anspruch Jesu und seine [98] Wahrheit eher zugänglich werden als in der Oberflächenstruktur der eingangs skizzierten Begriffe von Wahrheit im Kontext von Wissenschaftlichkeit. Der Anspruchscharakter der Wirklichkeit, ihr Aufgang von sich her, verbietet es nämlich, im vorhinein methodische Grenzen zu setzen, wie Wahrheit sich zeigen dürfe und wie nicht. Das Denken muß es sich gefallen lassen, je neu und je anders herausgefordert zu werden vom Aufgang der Wirklichkeit. Auch das Postulat, daß es endgültige Wahrheit nie geben könne, weil Denken in seiner Anmessung an den Aufgang der Wirklichkeit grundsätzlich unabgeschlossen ist, verwandelt sich. Es kann, ja muß letzte Wahrheit geben; nur die Weise, wie sie im Denken anwesend ist, kann nie als abgeschlossen gelten; der Prozeß der Annäherung an eine auch bereits gegebene Wahrheit ist unabschließbar.

Es ist hier noch nicht der Ort, auf den Charakter der spezifischen Endgültigkeit einzugehen, die der Wahrheit Jesu zukommt. Insgesamt soll die Wahrheit Jesu, soll sein Unverwechselbares und Einmaliges vorderhand zurücktreten vor der Reflexion auf die Eigenart und die Kriterien solcher Wahrheit, in der Neues aufgeht oder Altes sich von sich her in neuem Licht zeigen darf, die sich also nicht in der Sicherung oder je besseren Fassung eines bloßen Bestandes von Wirklichkeit erschöpft.

Liegt nicht die Grenze des noch so großartigen cartesianischen Verständnisses von Wahrheit darin, daß nur die Erkenntnis des Bestehenden, des Bestandes, nicht aber die des Ereignisses, des Geschehens, der Geschichte erschlossen wird? Und bleibt nicht in seinem Schema der ständigen Progression auch das Wahrheitsverständnis eines kritischen Rationalismus in letzter Konsequenz ungeschichtlich? Denn solche Progression rechnet nur mit der je größeren Annäherung des Denkens ans Gegebene, nicht aber mit einem neuen und anderen Sichgeben des Gegebenen.