Grundentscheidungen für ein verantwortliches Verhalten zur Zukunft
Vorblick auf die Zukunft
Drei Momente haben wir immer in Konkurrenz miteinander zu sehen, und angesichts der ökologischen Situation stehen sie in einer [177] verschärften Spannung zueinander. Ich nenne die drei Punkte: Gegebenheit, Freiheit und Mitsein. Es ist durchaus bedenkenswert, was in der großen Tradition katholischen Naturrechtsdenkens über Natur gesagt wurde. Wir können dieses Denken nicht vorschnell mit dem Vorzeichen „falscher Naturbegriff“ abtun. Wenn wir ein wenig tiefer analysieren, dann bleibt zumindest die fundamentale Erkenntnis bestehen, daß unsere Freiheit von den vorgegebenen Bedingungen abhängt und sich nur unter Akzeptanz vorgegebener Bedingungen überhaupt realisiert. Hierbei gibt es zwei Arten von Vorgabe, die beide für die Freiheit konstitutiv sind. Einmal braucht die Freiheit als sich verhaltende etwas, wozu sie sich verhält, als gestaltende, was sie gestaltet, sozusagen ein Substrat, in dem sie sich als Freiheit auswirkt. Zum zweiten – und dies ist noch fundamentaler, wirkt aber als der tiefste Grund in den ersten Aspekt hinein – ist Freiheit sich selber vorgegeben. Menschliche Freiheit geht nicht vom Nullpunkt aus, sie kann nicht nur sich selber das Gesetz geben, nach dem sie vorgeht und wirkt. Denn auch wenn sie versuchte, so sich allein ihr Gesetz und Maß zu sein, müßte sie sich selbst, ihre Grundstruktur, das, was eben Freiheit ist, dabei annehmen und realisieren. Freiheit ist Ausgang zu einem Ziel – oder sie ist nicht. Und wenn Freiheit die Annahme und Übernahme dieser ihrer Grundstruktur verweigerte, so wäre auch das ein Vollzug dieser Grundstruktur. Freiheit kann sich nicht entrinnen, endliche Freiheit ist als solche sich bereits vorgegeben. Gegebenheit ist in jeglichem Handeln also ein erstes Grundmoment: Gegebenheit dessen, worauf die Handlung sich bezieht, und Gegebenheit der Handlungsstruktur. Dies kann als ein elementarer, wenn auch noch vorläufiger Ansatz zu dem betrachtet werden, was „Natur“ bleibend für eine Lehre von der menschlichen Handlung bedeutet.
Die Spannung der Gegebenheit zur Freiheit oder der Freiheit zu den Gegebenheiten, auf welche sie sich bezieht, wird heute verschärft sichtbar. Angesichts der Verantwortlichkeiten des Handelns, heute handeln zu müssen, angesichts der weittragenden Konsequenzen, die unser Handeln so oder so oder auch unser Nichthandeln zeitigt, bei gleichzeitiger Unvorhersehbarkeit dieser Konsequenzen ist eine ängstigende Erfahrung, welcher viele Menschen, gerade auch jüngere und ältere, sich entziehen wollen, Grund mannigfacher Flucht- und Verweigerungsphänomene im [178] gegenwärtigen Menschentum. Diese fundamentale Spannung bricht indessen auf gerade im Fragwürdigwerden jener Gegebenheiten, jener Substrate, deren menschliches Handeln bedarf, um Zukunft planen, gestalten und sichern zu können. Der Mensch erschrickt davor, daß er nicht für jede Idee und jeden Plan seines Handelns die Mittel, die Energie, die Rohstoffe bereit hat. Selbst wenn die Mittel nicht so knapp sind und die Situation nicht so gespannt ist, wie manche Analysen und Prognosen es darstellen, ändert sich doch grundsätzlich nichts an der gegen den Grundduktus neuzeitlichen Entwurfs- und Planungsdenkens gerichteten Tendenz der Erkenntnis: Freiheit kann nicht alle Gegebenheiten in sich aufarbeiten, diese Gegebenheiten sind nicht nur ein Widerstand, den sie aufheben und in Kraft verwandeln könnte, diese Gegebenheiten sind zugleich Ermöglichung, Herausforderung und Grenze der Freiheit.
Das zweite Moment ist eben die Freiheit selbst. Gegebenheiten sind nur deswegen bedrängend, weil wir frei sind, weil wir gestalten wollen, weil Leben Gestalten ist, weil Leben Verhältnis ist zu dem, was ist. Nur weil wir über uns hinausschauen können, nur weil wir nachfragen können, nur weil wir uns zum Ganzen und zu unserem eigenen Leben verhalten, nur deswegen erfahren wir die Gegebenheiten als Druck und Widerstand. Freiheit ist ebenso in jedem denkbaren Konzept des Menschen und der Welt, auch in einem deterministischen, im Grunde mit enthalten. Jedwedem Tatbestand, ja sogar der Feststellung der Determiniertheit unseres Willens finden wir uns je nochmals gegenüber. Das Interesse der Frage, wie es sei, ist bereits das Zeugnis dafür, daß wir uns im Raum unserer Freiheit aufhalten. Freiheit kann nur von Freiheit in Frage gestellt werden. Wer nach Freiheit fragt, ist frei. Hier erscheint das Sich-selbst-Vorgegebensein der Freiheit von ihrem Wesen her in einer grundsätzlich anderen Position, als es oben bei der Betrachtung des ersten Momentes, der Gegebenheit, beschrieben wurde. Die Vorgegebenheit von Freiheit wird für die Freiheit als solche konstitutiv, wird für sie zur Frage nach ihrem Maß als Freiheit, zur Frage, wie sie sich als Freiheit verwirklichen kann. Gegebenheit und Freiheit sind in jedem Modell menschlichen Verhaltens zur Zukunft unablösbare Momente, sie stehen je im Verhältnis der gegenseitigen Bedingung, Gewähr und Begrenzung zueinander.
[179] Das dritte und ebenfalls immer präsente Moment – auch dies ist nur eine kurze Notiz – heißt Mitsein. Freiheit ist nie als endliche Freiheit nur allein da, sondern Freiheit betrifft immer zugleich die andere Freiheit, die Freiheit des anderen und die Lebensbedingungen des anderen und ist umgekehrt von ihnen mitbedingt und mitbestimmt. Auch wenn ich mich zu mir selber verhalte, auch wenn ich mich zu meiner eigenen Gegebenheit verhalte, verhalte ich mich zu anderen und gebe ich Antwort auf das Verhältnis anderer zu mir und zur Gegebenheit. Dieses Mitsein ist der menschlichen Handlung nicht weniger inwendig als Gegebensein und Freiheit oder Selbstsein. Indem Freiheit sich zu sich selbst und zu ihrer Sache verhält, verhält sie sich zu allem, stößt sie in den offenen Raum dessen vor, was ist und wie es ist – und somit in den Raum der Kommunikation. Dieser Raum aber ist kein abstrakter, sondern ein konkreter, er ist bestimmt durch das Gegebensein anderer Freiheiten und wird mitbestimmt für diese anderen Freiheiten durch jedes Handeln eines jeden Partners in diesem grundsätzlich universalen, alle umfangenden Raum.
Diese Betrachtung über die drei Momente Gegebensein, Selbstsein (Freiheit) und Mitsein erscheint sehr abstrakt. Und doch umschreiben diese drei Momente das Kraftfeld unserer konkreten Zukunftsentscheidungen, gerade auch im ökologischen und energiepolitischen Bereich. Auf welche Gegebenheiten muß ich Rücksicht nehmen? Wieviel an Handlungsspielraum steht mir zur Verfügung? Welche Konsequenzen hat mein Entscheiden und Handeln für andere, für alle, gleichzeitig und auf Zukunft hin? Wo nimmt meine Freiheit das Maß für verantwortliches Handeln? Wie kann sie, angesichts der nicht unbegrenzten Überschaubarkeit von Zukunft, wahrhaft frei sein zu dem, was sie will? Und wie ist in diese ihre Freiheit das Handeln anderer und die Rücksicht auf andere, die weltweite Gemeinsamkeit de facto über alle Trennungen und Isolierungen hinweg hineinverwoben? Es geht darum, jene Balance zu finden, in welcher die drei Momente sich optimal gegenseitig ergänzen und steigern, statt sich zu hemmen. Diese Balance ist aber nicht nur eine Frage des Faktischen, sondern eine Wesensfrage, eine Frage nach sittlichen Maßstäben.
Schauen wir noch einmal auf den hier eröffneten Horizont, so scheinen mir die folgenden drei Spannungsverhältnisse die Materie [180] oder das Feld unserer fälligen Entscheidungen zu sein, die jeder einzelne für sich, aber auch die Gesellschaft als Gesamtheit treffen muß.
Zum ersten handelt es sich um das Verhältnis Gegenwart-Zukunft. In einem allzu formalistisch erscheinenden Spiel, das aber wichtige Horizonte eröffnete, trüge man es bis in seine Konsequenzen hinein durch, könnte jeder der drei Pole Gegebensein, Freisein, Mitsein als die Zukunft des je anderen und der je anderen dargestellt werden. Jede Handlung realisiert ein Zusammenspiel der drei Pole und eröffnet zugleich eine neue Konstellation. Um es nur an wenigen Punkten zu verdeutlichen: Jede energiepolitische Entscheidung verändert den künftigen Spielraum, stellt meine Freiheit und die Freiheit anderer vor neue Gegebenheiten. Wir sind als Menschen Wesen, die grundsätzlich um unsere Zukunft und auch um unsere Verantwortung für die Zukunft in der Gegenwart, um die Zukunftsrelevanz unserer Gegenwart wissen. Und zugleich wissen wir, daß die Zukunft einen über alles Planen, Vorausberechnen und Überschauen hinaus eigenen, nicht nur quantitativ nicht aufarbeitbaren Überschuß hat. Verantwortliches Sorgen für die Zukunft und sich bescheidendes Gelassensein bei aller Sorge müssen sich notwendig ergänzen. Zukunftssorge darf nie zur Zukunftspanik werden. Verantwortung für die Zukunft und Mut zur Gegenwart suchen im Spiel unserer drei genannten Momente auch ihrerseits ihr Gleichgewicht, ihre Balance.
Das zweite Spannungsverhältnis ist das Verhältnis ich und alle oder wir und alle. Wie können wir Entscheidungen treffen, die ebenso Entscheidungen für alle sind wie Entscheidungen für uns selber? Wie können wir die notwendigen eigenen Interessen, die nur wir wahrnehmen können, so wahrnehmen, daß wir zugleich aller Interessen wahrnehmen? Wie können wir zugleich für alle da sein, ohne daß wir die Lebensbedingungen für uns selber unverantwortlich vernachlässigen? Wie können wir vor allen Dingen unsere Entscheidungen so treffen, daß wir nicht die Freiheit anderer präjudizieren, sondern ein freies Zusammenspielen aller jetzt und in Zukunft ermöglichen? Dieses Verhältnis: mein Interesse – aller Interesse, meine Freiheit – aller Freiheit, dieses Zusammenspiel ist das zweite, was immer und überall in Frage steht.
Das dritte Spannungsverhältnis ist das Verhältnis von Vorgegebenheit und freier Gestaltungsmöglichkeit: Welche Begrenzungen muß [181] ich einfachhin annehmen und respektieren, wo liegen Sachzwänge, denen ich mich beugen muß, und wie kann ich mit Phantasie und Mut zum Experiment die Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten hinausschieben? Andererseits aber: Welche Grenzen sind von innen, vom Wesen, vom Ethos her meinem Gestalten und Versuchen gesetzt? Wo zerstörte ich durch beliebiges Probieren und Experimentieren das innere Gefüge der Freiheit? Und weiter: Wie kann ich zukünftigem Handeln ein Minimum an unaufhebbaren Vorentscheidungen und ein Maximum an positiven Entfaltungsmöglichkeiten, ja Lebensmöglichkeiten sichern? Und dies führt schließlich zur Frage: Welches Maximum an Expansion und Wachstum kann ich nicht nur erreichen, sondern auch verantworten, und mit welchem Minimum ist Leben menschlich noch möglich?
Ich habe mit diesen drei Fragefeldern und mit der Zweiteilung des letzten von einer der Grundfiguren traditioneller Ethik gesprochen. Ich habe von den vier Kardinaltugenden gesprochen, welche heißen: prudentia oder die voraussehende Klugheit, justitia oder die Gerechtigkeit, modestia oder der Mut zum Maß, fortitudo oder die Stärke.
Das Verhältnis Gegenwart-Zukunft ist auch in der klassischen Ethik der Scholastik Rückgriff auf das Griechentum, bei Thomas von Aquin beispielsweise, aber ich möchte hier nicht auf einen einzelnen Autor, sondern auf die Tradition als Ganze eingehen. Dieses Verhältnis Gegenwart-Zukunft ist Gegenstand einer der Grundtugenden, der prudentia, wobei das Wort prudentia Providentia (Voraussicht) voraussetzt.
Prudentia – voraussehende Klugheit meint, in dem, was ich gegenwärtig tue, sollte der Blick auf das Zukünftige zugegen sein, so daß ich sowohl dem gegenwärtigen Bedürfnis wie den künftigen Folgen, die daraus erwachsen, gerecht werde. Die unmittelbare Wirkung und die Zweitwirkung, die Nebenwirkungen und das unmmittelbar Gewollte, die Notwendigkeit, Zukunft zu haben, und die Notwendigkeit, auf eine gegenwärtige Situation zu reagieren, diese Dinge in einem Blick zu sehen und um dieses Zusammensehens willen auch in der Gegenwart auf etwas zu verzichten, was ich gerne hätte, oder etwas zu wagen, was für mich unbequem ist, das ist prudentia.
Justitia – Gerechtigkeit besagt: jedem das Seine und mir das [182] Meine, indem ich die Hypothek des anderen immer so in den Umgang mit dem Meinen einbeziehe, daß es dem anderen das Seine läßt oder zukommen läßt. Es geht also um die Spannung ich und alle, wir und alle.
Modestia – Mut zum Maß meint eine Bescheidung, die nicht aus dem Ausschöpfen aller Möglichkeiten lebt, sondern sich darauf besinnt, mit wie wenig Ansprüchen meine und der anderer Menschen Verwirklichung möglich ist. Es geht also um die Freiheit zum Weniger und im Weniger, um das Verhältnis Freiheit – Gegebenheit. Modestia fragt: Auf wieviel kann ich verzichten?
Fortitudo – Stärke ist der Mut zum Mehr, zu jenem Mehr, das sich unter Umständen gerade auch im Weniger realisiert, und die um eines essentiellen Mehr das Weniger des nicht so Wesentlichen aushält. Sie weicht nicht zurück vor Schwierigkeiten. Sie gibt Ansprüche nicht deshalb auf, weil es unbequem wird. Sie ist beharrlich, weil sie mehr will.
Diese vier Tugenden zu kultivieren bedeutet, sich Hilfe zu schaffen für konkrete individuelle und soziale Entscheidungen. In der heutigen Situation bekommen diese Tugenden einen neuen Akzent:
Prudentia, vorsorgende Klugheit, fordert heute, einen Spielraum für morgen vorzuplanen; nicht, indem wir z. B. die Zahl der Menschen und deren Lebensweise im Voraus verordnen, sondern indem wir ihnen einen Spielraum der Lebensgestaltung lassen, der nicht durch uns vorbestimmt und vorbesetzt ist, so daß die Zukunft offenbleibt für die, die nach uns kommen. Prudentia muß die verschiedenen Aspekte einer Entscheidung abwägen und das Ganze in den Blick nehmen. Sie wird so eher zu einer Pluralität in den Methoden, z. B. der Energiegewinnung, hin neigen als zu glatten Totallösungen, die leicht in Engführungen hineintreiben.
Justitia: In einer einswerdenden Welt genügt nicht mehr der Grundsatz: „Jedem das Seine“. Gerecht ist heute: „Jedem das Meine und mir das eines jeden anderen“. Je mehr die Grenzen der Möglichkeiten unserer Welt sichtbar werden, umso mehr müssen wir lernen, miteinander zu teilen.
Modestia: Kultur des Verzichtens, Phantasie des Weglassens. Um das zu lernen, ist es nützlich, die Modelle des Lebens aus anderen Kulturen präsent zu haben, die Lebensmöglichkeiten anderer mit- [183] zuleben. Ein – zweifellos überspitzter – Ausspruch meines Vaters, der Maler war, lautete: „Man muß dem Architekten das Geld möglichst knapp halten, damit er anständig baut“.
Fortitudo verlangt die Treue, sich an Ziele zu binden, und Treue zur Freiheit des anderen, nicht aber, den anderen die Freiheit der Lebensgestaltung und Lebensmöglichkeit wegzuorganisieren, damit wir es einfacher haben.
Wir wollen nicht weg von den Möglichkeiten einer technischen Kultur. Rationalität ist aber erst dann ganze Rationalität, wenn sie sich reflektiert und in ein Gespräch eintritt, in dem neue Möglichkeiten eröffnet werden. Einbahnstraßen sind immer eng. Wenn wir miteinander leben wollen, dann ist Export der Technik nur möglich, wenn wir umgekehrt bereit sind, andere Möglichkeiten zu importieren. Nicht Radikalismus brauchen wir, sondern radikale Modelle, die die Synthese ermöglichen. Architekten sind wir. Denker sind wir. Aber wir können es nur dann in fruchtbarer Weise sein, wenn wir auch die Mönche von heute sind.