Vorspiel zur Theologie
Vorblick aufs Heilige
In den Transzendentalien spielt alles und lichtet sich alles. Die Gefährdung, die Schattenseite dieses Spiels hat uns bereits beschäftigt. Sofern etwas ist, gewiß, ist es wahr und gut und schön, eins und andersartig und hat es seine Fülle. Aber eben nur, sofern es ist. Und dieses [94] „ist“ vermag das Seiende nicht aus sich selbst. Das Sein ginge ins Leere, wenn die Vollendung bloß auf die Kraft des Seienden gestellt bliebe. Ob Macht oder Ohnmacht am Ende mehr recht behält, läßt sich nicht vom Seienden her ausmachen. Ob die Zukunft, ob das Dasein, ob das Gespräch, ob das Spiel im ganzen glücken, das steht nicht in den Grundspielen selbst geschrieben.
Dieser Heilsunsicherheit entspricht eine andere Unsicherheit. Man könnte sagen, diese sei der Boden, auf dem alles, was ist, steht – aber eben gefährdet steht. Daß wir überhaupt eingelassen sind ins Spiel, daß das Spiel überhaupt ist und geht, daß etwas ist und nicht vielmehr nichts, dies ist unselbstverständlich. Und es wäre kurzsichtig, diese Unselbstverständlichkeit abgetan zu wähnen durch die bloße Tatsache, daß etwas ist. Der Anfang von allem ist unselbstverständliche Gewähr, aber dieser Anfang imprägniert jeden Augenblick, imprägniert alles, was aus ihm anfängt. Die Transzendentalien sind in gewisser Weise Eigenschaften dessen, was ist, aber sie sind nicht sein Eigentum. Daraus, daß ich bin, kann ich keinen Titel ableiten, daß es weitergeht und wie es weitergeht. Dasein und Welt rücken so in die Schwebe.
In dieser Schwebe gibt es die Erfahrung der Kontingenz, der Zufälligkeit, der Ausgesetztheit, der Unselbstverständlichkeit. Hier hat auch das Staunen davor, daß etwas ist, hier hat mit dem Staunen die philosophische Besinnung eine elementare Wurzel.
Aber tiefer noch als dieses Staunen reicht eine andere, es überbietende und es unterfangende Erfahrung: Man könnte sie das theophanische Ereignis, den Aufgang der Dimension des Heiligen nennen. Das, was alles in seine letzte Fraglichkeit ruft und an dem allein es liegt, daß in [95] solcher Fraglichkeit doch ich bin und etwas ist und alles ist, bricht ein ins Gefüge meiner Erfahrung und droht sie zu zersprengen. Was ich bisher war und was sonst bisher war, hat kein Recht mehr. Es gilt nur noch das Eine: das Geheimnis, das jetzt mich angeht, jetzt alles in die Krise ruft, jetzt – aber es liegt allein an ihm – alles gut, alles neu machen kann.
Wir dürfen hier ebenso an die Berufungsgeschichte des Jesaja im Tempel wie an die Erschütterung des Petrus nach dem reichen Fischfang, wir dürfen aber auch an die Begegnung des antiken Menschen mit seinen Göttern oder an Erfahrungen wie jene denken, die Blaise Pascal in seinem Memorial aufschrieb und in sein Rockfutter nähte; sein Text beginnt mit den Worten: Feuer, Feuer, Feuer.
Was passiert, wo das Heilige aufgeht? Die Kategorien und ihre Logik werden gesprengt. Das, was jenseits aller Kategorien liegt, das unfaßbare Geheimnis, ist nahe, konkret, gegenwärtig: an diesem Ort, in dieser Stunde. Was aufgeht, ist „mein Alles“ – und doch bleibe ich ihm gegenüber. Es nimmt mein ganzes Leben in sich hinein, und doch erfahre ich die schärfste Differenz: Wie kann ich Gott sehen und am Leben bleiben?
Um einem Mißverständnis vorzubeugen, das Heilige heißt nicht einfach Gott. Es meint die Dimension, in welcher Gott göttlich ist, also nicht nur Grund und Ziel, oberste Macht und entzogenes Geheimnis, das Andere des Seins und der Seienden, sondern er selbst, er in seinem unbegreiflichen und unermeßlichen Aufgang aus sich selbst. Man hat in der Phänomenologie der Religion dieses Heilige als das tremendum et fascinosum beschrieben, als jenes, das in den bodenlosen Schrecken versetzt, das den absoluten Abstand schafft, und darin [96] doch zugleich als jenes, was innerlichst anzieht, erfüllt, hinreißt. Das Heilige bin nicht ich und ist nicht die Welt, und doch ist es der absolute Ernstfall meines Daseins und der Welt. Es ist das schlechterdings Unberührbare und zuinnerst Berührende.
Die Frage legt sich nahe, ob das Heilige ein weiteres Grundspiel sei, ob man es als transzendentale Bestimmung fassen könne. Der Unterschied zu den Grundspielen, zu den Transzendentalien zeigt sich jedoch bald. Wo das Heilige sich ereignet, steht die Frage an – und zwar nicht von außen, sondern von innen her –, ob das Spiel, ob alle Spiele nicht aus seien. Im Aufgang des Heiligen gibt es nur einen Pol, auf den alles ankommt: das aufgehende Heilige selbst. Partnerschaft ist ausgeschlossen – und doch kann Berufung, Sendung geschehen. Also doch Mitspiel? Aber Mitspiel nur, wenn und weil der andere Pol allein die Führung behält. Ein versammelndes Drittes, einen umfangenden Raum, in dem das heilige Geheimnis und ich aufgingen, gibt es nicht. Das Heilige ist dieser Raum.
An den Transzendentalien angeschaut: sie sind, wenn auch geliehen und verliehen, Eigenschaften, die sich teilgeben. Das Gute etwa macht gut, das Sein seiend. Das Heilige aber macht nicht im selben Sinn heilig. Es ist exklusiv – und doch glänzt das Gesicht des Mose vom Licht des Herrn, in das er schaut. Aber dieses Licht ist eben keine Eigenschaft, sondern Widerfahrnis, es spricht nicht von Mose, sondern allein von Gott.
Man könnte das Heilige das umgekehrte Spiel, das umgekehrte Transzendentale nennen. Doch es wäre zuwenig, das Heilige nur als die Krisis des Seins, der Spiele, der Transzendentalien zu verstehen. Wer den Transzendentalien begegnet, der erkennt in ihnen das Stigma des [97] Heiligen. Daß das Gute anzieht und sich verströmt, daß Sein aus sich aufgeht und sich mitteilt, daß Übereinkunft in der Sprache gelingt, daß das Spiel glückt, daß Einheit, Unterscheidung und Fülle einander gewähren, daß alles Sein letztlich Sich-Geben ist: dies ist das Unverfügbare, Unvermutbare, ist Gabe, die nicht auf eine Ursache hin erklärt, die selber nur einem Sich-Geben verdankt werden kann. Nicht mehr Mitspielen, sondern reine Gewärtigkeit, reines Sich-Loslassen in Anbetung, Bitte, Gehorsam sind die Antwort – und es ist noch einmal die Gabe des Geheimnisses, wenn das Spiel doch weitergehen darf und wir zu seinen Mitspielern eingesetzt werden.
Jetzt, aus der Begegnung mit dem Heiligen, sind die alten Gottesnamen, die an den Grundspielen, an den Transzendentalien abgelesen sind, mehr als nur ontologische Aussagen: das Sein selbst, die Wahrheit selbst, das höchste Gut, die höchste Schönheit, der Eine, der ganz Andere, die Fülle. Sie sind wahrhaft Namen. Im Licht des Heiligen ist auch die Aussage, daß alles Sein Sich-Geben sei und alle Spiele und Transzendentalien im Sich-Geben gründen und konvergieren, nicht mehr nur eine nachprüfbare Feststellung. Sie ist Zeugnis. Und dieses Zeugnis überzeugt gerade dadurch, daß es das schlechterdings Unselbstverständliche, Überraschende, Überwältigende zusagt.
Gespannt zwischen das Heilige und unsere Ohnmacht, erhalten die Grundspiele, die Transzendentalien erst jenes Spielfeld, indem sie sind, was sie sind, und so mehr sind als bloßes Spiel.