Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Vorentwurf der Bedeutung der Potenzenlehre

Der ursprüngliche Ort, an welchem das Denken die Potenzen, richtiger zunächst: seine eigenen Ur- und Grundbestimmungen gewinnt, ist, wie sich von selbst versteht, das reine Denken. Die Methode [159] reinen Denkens hat uns bereits beschäftigt. Es gilt also, dieser Methode gemäß den Hinblick des reinen Denkens mitzuvollziehen, dem sich diese ersten Bestimmungen ergeben.

Gleichwohl hält das Mitdenken zuvor nochmals ein. Es könnte sonst zwar den Gehalt des von Schelling Gedachten entdecken und sich aneignen, bliebe aber im Unklaren über die Bedeutung dieses Gehaltes. Der Gehalt aber ist nur er selbst von seiner Bedeutung her, das Gesagte ist das Gesagte nur, wenn es das Gemeinte des Gesagten sagt.

Die zu gewinnenden Grundbestimmungen sind zwar die lauter anfänglichen des Denkens an ihm selbst, doch das Denken an sich selbst fängt sein Denken ja nur von einem Antrieb her an, in der Richtung dieses Antriebs liegt das Gemeinte, diese Richtung ist das „Meinen“ des Denkens, auf dessen Gemeintes hin das Gesagte des Denkens etwas sagt, bedeutsam und eindeutig wird. Der Antrieb des Denkens als solchen geht also bestimmend und richtend seiner „reinen“ Tätigkeit voraus.

Wie Schelling diesen Antrieb versteht, der das Denken leitet, ist uns bekannt: Er beobachtet, daß jeder Gedanke das, was er denkt, als seiend setzt. Denken ist also Aussein aufs Sein. Der das Denken als solches unterscheidende Charakter dieses Ausseins aufs Sein ist Lichten, also Offenbaren, Prädizieren. Darin ist eine Differenz beschlossen: Erst gelichtetes, prädiziertes Sein ist ganz da – also gehört das Denken erfüllend zum Sein. Umgekehrt ist aber bloßes Denken, bloßes Aussagen noch nicht das ganze Denken; denn das Denken will nicht nur gedachtes, sondern wirkliches Sein. Erst darin, daß es wirklich so ist, wie das Denken es denkt, ist das Denken erfüllt. Das Denken vermag also in seinem Sagen nicht, was es meint; wenn es sein Gemeintes auch in seinem Sagen erst lichtet, erst mit sich identisch macht, ist es von Gnaden des Seins und ist nicht umgekehrt das Sein von Gnaden des Denkens, denn nur wenn vorgängig das Gelichtete schon „ist“, ist es gelichtet.

Schelling deutet diesen Befund nun folgendermaßen: Das Denken will die ihm vorgängige, aber nicht von ihm allein vermochte, die absolute, nicht erst gewordene, reine Wirklichkeit. In allem, was es sagt, meint es sie. Wenn es sich selber aus-gesagt hat, hat es gesagt, was sie ist. Alle Inhalte (oder besser: der ganze Inhalt) des Denkens [160] sind die Bestimmung, die Prädikation ihres Was. Das Wollen, der Antrieb des Denkens ist also zweistufig: Letztlich will das Denken das absolute Prius seiner selbst, die es vorgängig in Gang bringende absolute Wirklichkeit. Es will sie als wirklich, aber das Denken will sie, und das heißt: das Denken will sie lichten. Es will also seinen eigenen Inhalt als die vollendete Lichtung des Ursprungs, es will die absolute Wirklichkeit und das absolute Prädikat, das Prinzip und das Wesen, das das-Seiende-seiende und das Seiende, sein schlechthin Anderes und sich selbst als die Bestimmung dieses Anderen.

Indem das Denken seinen Weg unter solchem Antrieb nun betritt, entbirgt die Vernunft ihren Inhalt, setzt sie ihn aus sich heraus, um sich, und das heißt: um das, was das Prinzip ist, zu haben. Was ihr auf solchem Weg entsteht, ist je das Sich-Sagen des Denkens und zugleich sein Sagen dessen, was das Prinzip ist, Sagen des Seienden also und darin sein „Meinen“ des Prinzips, „Hypothese“ des Prinzips. Die fundamentalen Begriffe, die dieses Sich-Sagen des Denkens, Sagen des Seienden und Meinen, also Wollen des das-Seiendeseienden zustande bringen und abschließen, sind nun die „Potenzen“.

Die Richtung, in welcher diese Begriffe zu formulieren sind, ist demgemäß mehrfach:

Einmal lassen sie sich so sagen, daß darin das Wesen der sie setzenden, in ihnen sich sagenden Vernunft, das Wesen sich selbst besitzenden Geistes, erscheint: Subjekt, Objekt, Subjekt-Objekt.

Zum anderen, und diese Hinsicht ist in der Spätphilosophie vorherrschend, werden sie benannt von ihrem wesentlichen Verhältnis zum Sein her. Sie sagen stufenweise, aber auf jeder Stufe nur perspektivisch, also nur ergänzungsbedürftig, vorläufig, das ganze Seiende als Wesen des vorgängigen absoluten Ursprungs und des möglicherweise folgenden Vielen, das ist: Seinkönnendes, rein Seiendes, im Sein Seinkönnendes.

Schließlich werden sie, wenn auch kaum in fixen Benennungsreihen, vorgestellt als Grundgestalten des Wollens: Sie „meinen“, entwerfen, also wollen selbst das Seiende in der genannten Ambivalenz als Wesen des Prinzips und Wesen ihres Prinzipiierbaren, sie sind die „Wollungen“ des Denkens, in denen es das Seiende setzt. Darin erscheinen sie nicht nur als das Gewollte des sie setzenden [161] Denkens, sie selbst sind Wesen des Wollens, das Wesen schlechthin wird nach dem Modell des Wollens verstanden: Wesen als Was der Geistigkeit ist Was der Selbständigkeit, Selbstgehörigkeit, Wesen des Sich-Wollens also.

Sind die Urbegriffe oder Potenzen nun – diese Frage sei hartnäckig nochmals gestellt, um den Sinn der Potenzen dem Mitdenken nachdrücklich zu klären – logische oder ontologische Bestimmungen, Grundbegriffe oder Seinsmächte, subjektive Selbstbegriffe des Denkens und seines es antreibenden Wollens oder objektive Begriffe des zu Denkenden? Sie sind die Glieder der Alternativen je zugleich, an sich selbst und unmittelbar, nicht aus Ungenauigkeit des Denkens oder willkürlicher Phantasie, sondern aus dem Ansatz des Denkens her, das sie denkt. Es denkt in ihnen die absolute Idee, die in ihrer Unmittelbarkeit ungeschieden Gott und welthaftes Sein zusammenhält, sie sind der Stoff des Gedankens, aus dem beide in ihrem getrennten Selbstsein hervortreten und sich die wirklichen, einend-unterscheidenden Beziehungen zwischen beiden erbilden können.

Blicken wir, übers reine Denken hinaus, auf die „Welt“, die aus ihnen erstehen wird, wenn sie ersteht, und schauen wir auf den Zusammenhang des Logischen und Ontologischen in Anbetracht dieser möglichen Welt, so wird das Mitdenken einen Boden der Vorstellbarkeit gewinnen, auf dem das scheinbar Schwebende und Zerfließende der Hinsichten und Bestimmungen sich binden und orten läßt.

Wie schon ausgeführt, bedeutet für Schelling der faktische Weltaspekt, das Nebeneinander und Auseinander vieler existierender Größen, eine Verfremdung der wesentlichen Welt. Die ihrem Wesen entsprechende Welt ist nicht nur mit Gott, sondern auch in sich eins.

Ihre Vielheit ist nur Artikulation der Einheit, einer freilich nicht starren, sondern sich gliedernden, prozeßhaft Stufen durchlaufenden und sie als Stufen in der Entwicklung aufbewahrenden, organischen Einheit. Diese Einheit aber ist nicht nur Ergebnis, Einheit der Produkte des welthaft seienden Bestandes, sondern ist Grundriß und Wirkmacht, ist ursprünglich das alles wirkende und sich in allem spiegelnde und zeigende Kräftefeld, das Wesensgeschehen der Welt, das als solches ihren Bestand hervortreibt, die „Matrize“, die unter [162] dem liegt, was die Erfahrung vorfindet, eben: die geschehende Figur dessen, was ist. Die Potenzen sind nun die Linien dieser Matrize, die Kräfte dieses welterbildenden und in der Welt sich ausspielenden Kräftespiels, sie sind die ontologischen Grundmächte, und sie sind die logischen Grundbegriffe; denn das Denken ist ja nichts anderes als der – in der Abstraktion gefallenen, „bloßen“, vom schöpferischen Prinzip getrennten Denkens freilich ohnmächtige – Entwurf dessen, was ist.

So versteht sich von selbst, daß diese Potenzen vom Denken weggewandt das, was ist, zeichnen und zugleich doch das Denken selbst, das Wesen sich vollbringender und vollendeter Geistigkeit zeichnen, zumal da das Denken in dem, was es als ontologisches Entwerfen vollbringt, sich selbst nicht nur indirekt spiegelt, wie jedes Tun seinen Täter mittelbar wiedergibt, sondern da es im Weltprozeß als ganzem sich selbst, als Denken, auch wieder her-vorbringt.

Und noch ein weiteres versteht sich: Die Potenzen zeichnen nicht allein das, was ist, und das Denken und sein wollendes Grundwesen, sondern darin eben auch das Prinzip, die unvordenkliche Wirklichkeit. Sie sind nicht diese Wirklichkeit, aber sind ihre Lichtung, sind, was sie ist. Die bewegte Ebene, die das Denken erbildet und in der es sich selbst erbildet, ist auch die Ebene, von der aus alles, was ist, aufsteigt und in der sich das unvordenkliche Geheimnis, aus seiner Unfaßbarkeit aufbrechend, abbildet und so erst selber faßt.

Die drei Potenzen an sich, in ihrer Figürlichkeit, als der unmittelbare Inhalt des Denkens, sind also keine Abstraktionen, sondern „Konkretionen“, der anfängliche Ineinsschlag des Logischen und Ontologischen, des Theologischen und Kosmologischen im – wenn man es so sagen darf – Noologischen, in der Figur einer sich in sich schließenden, vom Antrieb ihres Wollens her verstandenen Geistigkeit.