Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Vorläufige Analyse

Logisch betrachtet, bleibt also die Vernunft im Vollzug des Denkens „in sich“, doch der Sinn des Logischen ist das, was ist. So wird das logische Insichbleiben der Vernunft zur ontologischen Selbstüberschreitung. Was aber bedeutet diese?

[43] Das Denken geht nicht über sich selbst hinaus, sofern alles, was es denkt, aus der Vernunft, aus der eigenen Quelle des Denkens und nicht von einem Außen in es einfließt. Was dem Denken nur von außen zukäme, käme in es hinein kraft der Frage: Was ist das? Diese Frage aber bezieht es auf die es verstehende Denkmöglichkeit, auf etwas, was das Denken also aus sich dem Begegnenden entgegenbringt. Nur in einem Gedanken, in welchem das Denken sich selbst versteht, versteht es sein Anderes. Dieses Andere ist, als gedacht, vom Denken umgesetzt zum Eigenen, zu einer aus dem Denken hervorgebrachten Gestalt des Denkens.

Doch kann man überhaupt noch sagen, das Andere werde vom Denken „umgesetzt“? Schon das zuerst im Denken Auftauchende, der Stoß des „Dieses da!“ ist Stoß ins Denken nur, sofern das Denken denkend ihn aufnimmt, ihm die eigene Möglichkeit bereithält, es als „Dieses da!“ zu verstehen. Das Denken, das auf sich reflektiert, entdeckt sich nicht nur als Partner, sondern zuvor schon als Raum seiner eigenen Begegnung mit dem, was ist. Ja, was ist, „ist“ nur, kommt nur dazu, als seiend aussagbar zu sein, sich dem Denken gegenüber zu bewähren, sofern es vom Denken ins Denken gestellt ist. Im „ist“ geschieht die Urleistung des Denkens, und sie beruht, in der Selbstreflexion des Denkens genetisch betrachtet, nicht darauf, daß das Denken etwas, das ihm gegenüber ist, in sich setzt, sondern umgekehrt darin, daß das Denken etwas aus sich und so in sich selbst sich gegenübersetzt. Das, was ist, ist als seiend zugleich dem es gewahrenden Denken gegenüber, darin ihm gerade inne, inne aber nur als aus dem Denken stammend.

Denken ist in sich selbst diese Bewegung: etwas aus sich zu setzen, darin in sich zu bewahren und so im Innesein sich gegenüberzusetzen. Das im Innesein vom Denken sich Gegenübergesetzte ist. Denken geht hin aufs Sein, und: Denken bleibt in sich, heißt so dasselbe, und es heißt zunächst in Schellings Sinn nicht: Denken ist unmittelbar von sich weg bei etwas, das ohne das Denken schon ist, sondern: Denken ist in sich Aussichgehen und Sich-Gegenübersetzen, worin das Gegenübergesetzte ihm seiend, das heißt zugleich ihm gegenüber und ihm inne, also „aus“ ihm seiend ist.

Die Aussage, das Denken sei kein leeres Sich-selber-Denken, sondern Denken dessen, was ist, bedeutet in diesem ersten Gang des [44] Denkens keinen Triumph des Seins über das Denken, sondern im Gegenteil Triumph des Denkens über das Sein.

Es wäre freilich ein Mißverständnis des Ausgeführten, wollte man in der aufgestellten These eine Leugnung der „Realität der Außenwelt“ erblicken 1, sie sagt vielmehr „nur“ dies: Was ist, ist, sofern es ist, nichts zum Denken als Denken, zur sich vollziehenden Geistigkeit als solcher Zusätzliches oder ihr Vorgesetztes, sondern ist nur als aus und im Geist seiend.

Gerade Schelling versteht unter dem Selbstvollzug des Geistes zuhöchst kein bloß subjektiv-menschliches Tun , sondern die alles aus sich setzende und in sich bewahrende Selbstmacht absoluten Geistes, wie der Durchbruch vom System des transzendentalen Idealismus zur Identitätsphilosophie aufs deutlichste beweist, wie dies aber auch schon seine früheren Ansätze implizieren.

Daß die gegebene Deutung des Zusammenhanges von lnsichbleiben und Aussichgehen des Denkens Schellings Selbstverständnis entspricht, zeigen nicht nur die Analysen des Systems des transzendentalen Idealismus, sondern auch die Bemerkung der „Darstellung des philosophischen Empirismus“, im „Erkennen des Erkennens“ unter vorläufigem Verzicht aufs Erkennen des Seins werde „das Erkennen selbst zum Gegenstand gemacht, und es damit so gut für ein Seiendes als irgendein anderes erklärt“2.

„Seiend“ ist also das vom Denken sich zum Gegenstand Gemachte, das Woraufhin des geschehenden Bezuges des Denkens, wobei Denken selbst dieser geschehende Bezug und so die Erbildung des Bezugspunktes seiner selbst ist. Die Kritik des späten Schelling an der Kantischen Teilung zwischen aktivem und rezeptivem Erkenntnisvermögen3 sein Festhalten am einen, aktiven Prinzip der rationalen Erkenntnis4, seine Deutung der Philosophiegeschichte als Weg der Vernunft zu ihrer universalen Selbstentfaltung5 bestätigen sein Durchhalten des frühen Ansatzes.

Die kurze Analyse, die den Ursprung des „ist“ in der alleinigen Ursprünglichkeit der Vernunft aufsuchte, kann so als Erklärung [45] des Schellingschen Satzes gelten: „Die Vernunft, sowie sie sich auf sich selbst richtet, sich selbst Gegenstand wird, findet in sich das Prius oder, was dasselbe ist, das Subjekt alles Seins.“6


  1. Vgl. etwa X 234/35. ↩︎

  2. X 233. ↩︎

  3. Vgl. XIII 46–51. ↩︎

  4. Vgl. XIII 51, 55/57. ↩︎

  5. XI 255–276. ↩︎

  6. II 57. ↩︎