Unterscheidungen

Vorurteile gegenüber der Politik*

Politiker haben es nicht leicht. Gerade dann nicht, wenn es ihnen – nicht bloß vor anderen, sondern auch vor sich selbst – darum geht, ihre Politik an Maßstäben zu orientieren, ihre Politik zu verantworten. Sie geraten, sozusagen konstitutionell, in ein mehrfaches Dilemma.

Weil sie ihre Politik an Maßstäben orientieren, kann ihnen der Erfolg nicht alles sein. Weil es aber Politik ist, was sie an diesen Maßstäben orientieren, können ihnen diese Maßstäbe nicht alles sein; diese müssen ja zum Zuge kommen, sich umsetzen in gesellschaftliche, politische Wirklichkeit. Dann aber muß den Politikern an ihrer eigenen politischen Effizienz liegen. Gewiß wäre es fatal, wenn sie mit der Berufung auf Grundsätze nur ihr Streben zum Erfolg verbrämten. Wäre es indessen nicht auch fatal, wenn sie um der Reinheit ihrer Grundsätze willen darauf verzichteten, daß wenigstens etwas von diesen Grundsätzen, wenigstens das Erreichbare, Mögliche in die konkrete Gestalt der Gesellschaft eingeht? Wo aber sind die Grenzen, wo muß auf den politischen Effekt verzichtet werden, weil man sich sonst daran mitschuldig machte, daß das Unvertretbare sanktioniert wird? Und wo gehört der Kompromiß, das Sich-Arrangieren, der Abstrich vom eigentlich Gewollten, hinzu, damit nicht alles verlorengeht? Diese Fragen sollen hier nicht aufgearbeitet werden, sie sollen stehenbleiben. Sie sollen aber darauf hinweisen, daß Politik mehr ist – und gerade um solcher Ziele willen, die sich nicht in politischer Macht erschöpfen, mehr ist als die saubere und direkte Anwendung von Prinzipien, die man eben deklamatorisch vertreten und mit irgendwelchen Mitteln durchsetzen muß.1 Es geht ja schließlich auch nicht nur darum, für den [114] Augenblick etwas zu erreichen, von dem aber vorauszusehen ist, daß im Gegenstoß hernach genau nur das Gegenteil und dies vielleicht in breiterer Front herauskommt, als der momentane Erfolg für eine gute Sache es verlohnt. Noch einmal: das rechtfertigt keinen vorschnellen Pragmatismus, das bedeutet keine Auseinanderreißung des Grundsätzlichen und des Politischen, das stellt aber vor die Frage, wie das Grundsätzliche im Politischen, auf die spezifische Weise des Politischen zur Geltung kommen könne. Die Frage ist also die Frage nach dem Unterschied des Politischen.

Ehe sie angegangen wird, sei sie noch verschärft; denn das gezeichnete Dilemma ist nicht das einzige, in das der Politiker gestellt ist, dem es in der Politik um mehr als bloß um sich geht. Will der Politiker Grundsätze realisieren, so scheint oft genug von den unzweifelbaren Maßstäben her die komplexe Situation nicht mehr leicht in Sicht zu kommen oder, umgekehrt gesagt, scheint von der Realität her der Blick auf die Prinzipien mannigfach verunsichert, verstellt. Es ist nicht deutlich, was in „dieser“ Situation aus noch so klaren Prinzipien konkret zu folgern ist oder welche Prinzipien für diesen konkreten Fall nun zuerst und vor allem in Anschlag zu bringen sind. Man kann aus der Notwendigkeit, allen Menschen eine Chance zu erschließen, den Egoismus der Besitzenden in der Welt abzubauen, Entwicklung voranzutreiben, nicht sofort eine bestimmte Handelspolitik ableiten; man kann aus dem Vorrang des Friedens vor den meisten anderen Werten nicht unvermittelt bestimmte politische Konsequenzen deduzieren. Da ist schon überall etwas mit den Prinzipien zu machen, da kann auf keinen Fall an ihnen vorbei gedacht und gehandelt werden. Aber welchen Prinzipien ist jeweils der Vorrang zu geben, wie können alle Gesichtspunkte wirkungsvoll kombiniert, ja wie kann überhaupt das, worum es geht, am aussichtsreichsten und am besten realisiert werden? Es wird nie so weit kommen, daß sich etwa ein Handbuch christlicher Soziallehre schreiben ließe, in dem man die politisch richtigen Lösungen einfach ablesen könnte. Politik ist mehr als Kasiustik einer gesellschaftlichen bzw. politischen Moral. Was aber ist das Politische dann, wenn es sich nicht in der rationalen Anwen- [115] dung richtiger ethischer Maximen auf das Leben der Gesellschaft erschöpft, und zwar gerade deshalb nicht, weil es darum geht, derlei Maximen zu verwirklichen?

Die Verdächtigungen, Politik sei die Zwielichtigkeit eines mit dem Willen zur Macht befleckten Handelns, die Unehrlichkeit eines seine Maßstäbe mit dem Schielen auf Erfolg manipulierenden Agierens, sie sei Ersatz der Argumente durch List oder Gewalt, mögen zwar immer wieder Nahrung aus konkreten Erfahrungen erhalten; prinzipiell behauptet oder unbewußt ins Repertoir der prägenden Vorurteile aufgenommen, verfehlen sie jedoch fundamental den Stellenwert und das Wesen des Politischen.


  1. Vgl. Welte, Bernhard: Über das Wesen und den rechten Gebrauch der Macht. Eine philosophische Untersuchung und eine theologische These dazu, Freiburg i. Br. 1960, bes. 29ff. ↩︎