Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie
Vorverständnis des Denkens
Die Bemühung, Schellings Verständnis des Denkens aus den Texten seiner Spätphilosophie zu erheben, könnte sich auf jene Stellen beschränken, an denen ausdrücklich von „Denken“ die Rede, bzw. wo Denken nicht nur von anderen Grundvollzügen wie etwa dem Wollen, sondern wo es auch von unmittelbar verwandten Vollzügen oder Begriffen wie Wissen, Erkennen , Glauben, Ahnden, Vernunft, Verstand abgehoben oder mit solchem in Beziehung gesetzt ist. Eine andere Möglichkeit böte, entlang den Gedanken des späten Schelling, die Sichtung all dieser zusammengehörigen Vollzüge und Begriffe auf das ihr Zusammengehören Gewährende. In dieser Richtung wurde im Voraufgehenden das Wort „Denken “ angesetzt, und so soll auch im Folgenden die Frage nach dem Denken bei Schelling verstanden werden. Hierbei bleibt freilich die Differenz des Denkens in diesem umgreifenden Sinne zum „bloßen“ Denken auszuarbeiten.
Was meint nun das „Denken“, nach dessen Selbstverständnis beim späten Schelling wir fragen? Die Auskunft ist von diesem, von seinen Aussagen zu erwarten. Gleichwohl muß die Frage wissen, was sie fragt, ist ihre Richtungnahme auf das, was sie noch nicht weiß, selbst schon ein Wissen, dessen sie bedarf, um fragen zu können. So hat die Frage sich am Umriß ihres eigenen Vor-Wissens zu orientieren. Denken, das wurde schon ausgeführt, meint ein Durchgängiges, Selbes, das sich aus den verschiedenen denkenden Ursprüngen zeitigt und sie miteinander verbindet. Vom Denken reden heißt nicht von einem verschlossenen Individuellen, sondern von einem Verbindenden, Umgreifenden reden.
[37] Doch welcher Art ist dieses Durchgängige, Verbindende, Umgreifende? Nicht ein Ding, auch nicht ein von außen um die Denkenden geschlungenes Band oder ein um sie gebreiteter Horizont, sondern etwas, das von ihnen ausgeht, das sie vollziehen. Denken – Umgreifendes und übergreifendes, doch auf diese Weise des Vollzuges, der Ursprünglichkeit.
Welcher Art aber ist diese Ursprünglichkeit und das von ihr und als sie selbst vollzogene übergreifende, Verbindende?
Die Ursprünglichkeit des Denkens ist derart, daß sie empfängt, vernimmt, also dessen inne wird, was sie vollbringt, daß das, was sie tut, für sie wird; sonst wäre es ja kein Verbindendes, sonst wäre das Vollzogene, das Gedachte des Denkens draußen aus dem Denken, von ihm abgeschnitten. Und das Gegenteil ist der Fall: Nur was dem Denken inne ist, ist gedacht, gedacht ist es aber nur als aus dem Denken kommend, von ihm vollzogen. Denken ist also Vollzug, bei dem das aus ihm Hervorgehende und in ihn Eingehende eines, aus sich Hervorgehenlassen und in sich Eingehenlassen dasselbe sind.
Doch ist damit das Eigene des Denkens schon gekennzeichnet? Ist nicht auch etwa beim Wollen das Entsprechende der Fall? “Wollen will“ heißt doch: es geht auf sein Gewolltes zu und setzt es damit zugleich in sich hinein – das Gewollte lebt im Innern, als das Innere des Wollens. Das Wollen kann solches aber nur, weil es weiß, was es will. Wissen jedoch ist von der Art des Denkens. Im Denken und als Denken ist das Wollen mit seinem zu Wollenden allererst so verbunden, daß es diese Verbundenheit wollend ergreifen kann. Denken ist die Lichtung der Verbundenheit, ist Verbundenheit als Offenbarkeit, Verbundenheit und Offenbarkeit aber nicht als vorliegend, sondern eben als geschehend, als zugleich getan und vernommen. Denken ist Lichten und Sehen, zweieines Geschehender Lichtung . Daß etwas hell wird, aus dem Denken fürs Denken, dies ist das Denken.
Und was wird hell? Was ist. Darauf, was ist, hat es das Denken abgesehen, das, was ist, vollzieht und empfängt es auf so mannigfache Weise, wie es als Denken geschieht. Das Absehen auf das, was ist, macht es erst zum Denken, dieses Absehen aber ist wollende.Verbundenheit mit dem und Zugetanheit zu dem, was ist. Wie im [38] Wollen vorgängig, ermöglichend ein Denken, so wohnt im Denken vorgängig, es als Denken konstituierend, ein Wollen.
Zwei Züge dieses Vorwissens ums Denken fallen angesichts der zu befragenden Texte besonders auf: 1. Denken ist Ursprünglichkeit, Vollzug, Tun – Tun aber gerade seiner eigenen Rezeptivität. 2. Denken ist in diesem Sich-Entsprechen und in dieser Selbigkeit von Tun und Empfangen nicht in sich verschlossen, sondern im Gegenteil Öffnung in die Offenheit des Seins, Vollzug dieser Offenheit, lichtendes und sehendes Vollbringen dessen, was ist.
Daraus entsteht ein Fragepaar, das unmittelbar zur Problematik des Denkens in seinem Selbstverständnis beim späten Schelling hinführt:
Wenn Denken die Offenheit des Seins vollbringt, wenn das gelichtete Sein das Gewollte des Denkens ist, so ist damit noch nicht entschieden, ob es den anfänglichen Hinblick aufs Sein und das in diesem Hinblick enthaltene Vorwissen auch aus sich selbst einholen, ob Denken also aus sich selbst und allein Erkennen und Wissen werden könne oder ob es aus sich selbst und allein bloßes Denken – und somit gerade bloßes Wollen – bleiben müsse. Und wenn die Differenz zwischen bloßem und erfülltem Denken gälte, wo sonst als im Denken ließe sich diese Differenz aufholen, damit das Denken erfüllt sei?
Wenn Denken auf der einen Seite nur aufs Sein zu Denken ist und wenn das Sein auf der anderen Seite nur im Denken hell wird, so ist das Gleichgewicht von Ursprünglichkeit und Rezeptivität im Denken selbst nochmals daraufhin unentschieden, ob es dieses Gleichgewicht aus sich selbst oder ob es als seine eigene Ursprünglichkeit sich nur zugekommen, ob es also ursprünglich und im ganzen ursprünglich oder ursprünglich und im ganzen empfangen, sich zugewiesen, anders gewendet: ob das Denken von Gnaden des Seins oder das Sein von Gnaden des Denkens sei.
Wenn aber das Denken sich nur zugekommen ist, wie ist ihm dann die Durchgängigkeit über sich hinaus, in seinen Ursprung, ins Sein gewährt, wo es doch nur als hervorbringend gewahr und innezuwerden vermag? Bringt das Denken das Sein hervor, wie ist das Denken dann des Seins, bringt aber das Sein das Denken hervor, wie ist das Denken dann seiner selbst gewiß?
[39] Denken ist lichtend-sehende Ursprünglichkeit, Denken ist Denken nur im Hinblick und als Hinblick auf das, was ist, aufs Sein. So ist hier Denken aber gerade in der Schwebe: Ist das Sein ihm Zukunft und Herkunft, die es außer sich hat, oder ist das Denken selbst Gegenwart, die alles Sein in sich hat, oder trifft auf irgendeine Weise beides zugleich zu?
Selbstursprünglichkeit des Denkens, Verweis des Denkens aufs Sein, Fraglichkeit des Denkens als Zugleich von Selbstursprünglichkeit und Verwiesenheit: dies umreißt nicht nur das Vorverständnis des Denkens in unserem eigenen Fragen, sondern gewährt ihm auch den Zugang zu Grundeinsicht und Grundfrage des späten Schelling selbst.