Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie

Vorverweis: Gott und die Potenzen in der positiven Philosophie

Die Potenzen wurden am Ende der negativen Philosophie das Mittel, den Zustand des wirklichen Ich in seiner wirklichen Welt zu begreifen, indem sie die „Macht“ des Ich über die Welt und seine Ohnmacht ihr gegenüber und somit seinen praktischen Hinblick auf den göttlichen Gott und sein frei gewährtes Heil artikulieren1.

Sie sind darin dasselbe geworden, was sie in der positiven Philosophie sein werden: Begriffe wirklicher Wirklichkeit, der Wirklichkeit mächtige, selbst wirkliche Begriffe. Aber sie sind es noch geworden von einer anderen Voraussetzung aus als in der positiven Philosophie: sie führten uns nicht von Gott her, sondern aus ihrer eigenen Dynamik, führten uns aus der hypothetischen Entwicklung ihrer selbst über sich hinaus zum möglichen Fall und seinen in der Möglichkeit notwendigen Folgen. Daher setzt sich ihre Logik in der positiven Philosophie nicht unmittelbar fort in die – in Schellings Sinn mögliche – Ableitung des Wie einer faktisch unableitbaren und unforderbaren Versöhnung.

Logisch aus sich selbst auf die wirkliche Wirklichkeit zu- und in sie hineingewachsen, müssen sie, wirklich, zuvor aus anderem Ursprung ihr zu- und in sie hineinwachsen: als die Potenzen des göttlichen Gottes, der so, als ihrer mächtig, als dieser göttliche Gott, als der Herr des Seins gerade aufgeht. Auf ihn hatten sie zum Ende der negativen Philosophie verwiesen, ohne unmittelbar selbst mehr zu entbergen als eben: den „Gott am Ende“2, den Gott, der als [226] das Resultat ihrer Selbstauseinandersetzung und Selbstdurchführung abgesondert, „geheiligt“3, über ihnen stehenbleibt.

Bezeichnen wir nochmals formal die wesentlichen Stellungen der Potenzen, welche ihr Prozeß in der negativen Philosophie durchlief, ehe wir sie in der Fortsetzung dieser Linie, die doch den Sprung und die Kehre zur positiven Philosophie bedeutet, neu ansetzen als die Potenzen Gottes.

Das erste, was in der negativen Philosophie geschah, war die Exposition der Potenzen als Ursachen: das Seinkönnende wurde unmittelbar übergehend ins Sein gedacht, darin erwies sich die Potentialisierung des rein Seienden und des Subjekt-Objekts als mitgedacht. In dieser Potentialisierung durcheinander geschah eine neue Zuordnung zueinander, ein gemeinsames Wirken, das in der „Seele“ als der vierten, die drei ersten einenden und sie seienden Ursache zum Abschluß kam.

Das Sein der Potenzen wurde so zum Sein von der Seele her, ihr Gleichgewicht war auf die Seele als labile Spitze gestellt. Es bedeutete Gleichmöglichkeit von ruhigem Verbleiben der Seele im Innesein der Potenzen und von die Potenzen erregendem Sich-Erheben der Seele als νοῦς, als Ich. Hypothetisch wurde die letztere Möglichkeit sodann ausgespielt. Wieso? Die Potenzen als entia quibus und nicht entia quae, als prädikativ verwiesen auf einen sie ergreifenden, sich in ihnen vollbringenden und erst sie in ihre Einheit und ihren Sinn vollbringenden Akt implizieren diesen als ihr Prinzip. Unmittelbar, in ihrer Entwicklung aus sich selbst heraus, führen sie nicht auf das wahrhafte Prinzip, auf die in ihnen vorausgesetzte und bezeugte absolute Wirklichkeit hin, sondern von ihr weg – nur so kann sie sich als wirklich, nur in der Distanz der Potenzen kann sie sich als ihrer mächtig, als absolute Freiheit von und über ihnen erweisen.

So ist es in der Linie des Gedankens konsequent, daß sie über sich selbst hinausgeführt werden in jenen Akt, der nach ihnen folgt und sie trägt, und daß dieser Akt angesetzt wird in seiner extremen Stellung, eben in der des Gegenprinzips, des sich selbst setzenden Ich. Gerade in dieser Stellung, als Potenzen des Ich, vom Ich her, [227] zeigen sie aber, daß sie nicht darin aufgehen, Potenzen des Ich zu sein, sie sind es nur als zugleich Potenzen über das Ich. Das Ich kann seiner ontologisch zweiten Stelle nicht entrinnen, die Potenzen können dem prädikativen Verweis auf den, der sie ursprünglich ist, auf Gott, nicht entraten. Ihre Macht über das selbständig gewordene Ich zeigt am Ende negativer Philosophie an, wessen sie eigentlich, ursprünglich und unzerstörbar sind.

Die mediale Ursprünglichkeit des Denkens, die das Denken als das Zweite der absoluten, ersten Ursprünglichkeit des Seins gegenüber aufgehen ließ, bewährt sich so – in der materialen Durchführung der Potenzlehre innerhalb der negativen Philosophie – als die Bezeugung Gottes.

Dieses Zeugnis von Gott ist das Ende des Denkens, der vom Denken bezeugte Gott also der Gott am Ende. Er wird sich erst als der wirkliche erweisen, indem 1. die Wirklichkeit als Wirklichkeit von ihm her gefunden wird, d. h., indem sich die Erhellung der Prinzipialität Gottes im Denken durch die Bestätigung des im Denken als möglicherweise seiend Abgeleiteten im wirklichen Sein bestätigt, und indem 2. er selbst auf diese Wirklichkeit zu verstanden, als der Herr der Wirklichkeit begriffen wird.

Es ist also, gemäß dem schon früher entworfenen Grundriß positiver Philosophie, deren nächste Aufgabe, den Aufgang des absoluten Prius, des unvordenklichen Daß ins Denken und somit seine Zuführung zu den Potenzen als dem ihm eigenen Prädikat zu denken. Wie sind die Potenzen, was Gott ist? Wie zeigen sie ihm die Möglichkeit seines Anderen? Wie sind sie seine Freiheit zum Seinlassen dieses Anderen, wie seine Herrschaft über das sich zu sich erhebende Andere, wie das Mittel der Versöhnung dieses Anderen mit Gott? Dies sind die Fragen der positiven Philosophie, wenn man sie materialiter, im Blick auf die Potenzen als ihre „Begriffe“, formuliert.

Für das Gesamtvorhaben unserer Untersuchung über Gott und das Denken nach Schellings Spätphilosophie sind diese Fragen entscheidend. Sie sind die Stelle, an welcher das Selbstverständnis des Denkens sich als Begriff Gottes ergibt. Doch gerade dieses Ziel unseres Mitdenkens mit Schelling begrenzt das Programm der Ausführung der genannten Fragen. Denn es ist uns nicht um die er- [228] schöpfende Erarbeitung dessen zu tun, was mit Hilfe des von Schelling entwickelten Denkens über Gott zu sagen ist. Vielmehr geht es uns darum zu erhellen: Zu welchem Grundverständnis Gottes führt das Denken, das sich so versteht und das so ansetzt, wie das eben in Schellings letzter Philosophie der Fall ist?

Wir scheiden also die ausführliche Behandlung der Trinitätslehre, der Schöpfungslehre, der Christologie und der Soteriologie aus dem umrissenen Fragenkomplex aus und ziehen statt dessen mit Schelling und im Gespräch mit ihm aus dem entwickelten Verständnis des Denkens die Summe, die sich als Anfang seiner positiven Philosophie, als sein Begriff des göttlichen Gottes ergibt.

Unsere Darstellung der Potenzenlehre schlösse organisch damit ab, diesen Begriff Gottes zu entwickeln: er ist die Fortsetzung der Potenzenlehre in die positive Philosophie. Als diese ist er zugleich aber mehr: die Potenzen kehren hier nicht sich selbst um, wie dies im Übergang vom reinen Denken in die negative Philosophie geschah, die sie von der hypothetischen Selbsterhebung des Seinkönnenden her als Möglichkeiten ihnen folgenden Seins verstand. In der positiven Philosophie kann die Initiative hingegen nur beim Prinzip selbst liegen, das sich in solcher Initiative gerade als Gott und so die Potenzen als die des göttlichen Gottes erweist. Die Potenzenlehre in der positiven Philosophie setzt den Wegblick von den Potenzen auf jenes voraus, was an ihnen sich als Gott bewähren wird, auf das absolute Prius.

So entspricht es sowohl dem Gesamtsinn unserer Untersuchung wie der immanenten Struktur der Potenzenlehre in der positiven Philosophie, wenn wir ihre Behandlung in ein eigenes und neues Kapitel fassen: Gott im Denken der positiven Philosophie.


  1. Vgl. XI 567. ↩︎

  2. Vgl. XI 559, XIII 107, 172. ↩︎

  3. XI 373. ↩︎