Wegmarken der Einheit

Vorwort

[7] Das Wort, das der Heilige Geist, der „Finger an des Vaters Hand“, wie ihn der pfingstliche Hymnus nennt, in unsere Epoche einschreibt, heißt: Einheit. Spaltungen, Zerwürfnisse, Brüche durchziehen die Welt; zugleich eine immer dichtere Angewiesenheit aller auf alle, das Heranwachsen eines unteilbaren Lebensraumes Welt, der nur eine gemeinsame oder aber keine Zukunft für die Menschheit bereithält. Eine bloß funktionale Einheit genügt nicht, ja sie kommt gar nicht zustande. Konzepte, Ideen, Ideologien von Einheit stehen in Konkurrenz, umwerben die Völker und Gesellschaften. Wo ist die innere Substanz, aus welcher Einheit leben, wo der Grund, aus dem sie wachsen, wo das Bild, an dem sie sich orientieren kann?

Einheit, die wir suchen, wo wohnst du? Wie dringlich wäre es, daß Christen sagen könnten: Kommt und seht! Ist nicht ihnen das Testament Jesu anvertraut, in welchem Jesus den Vater bittet, daß alle eins seien, damit die Welt glaube (vgl. Joh 17,20–23)? Nun, die Unruhe des Geistes hat die getrennte Christenheit gepackt und führt sie Schritt um Schritt näher zusammen. Kirche selber begreift sich immer tiefer als „Sakrament der Einheit“ (vgl. Zweites Vatikanisches Konzil, Liturgiekonstitution, Nr. 26). Aufbruch zur Einheit, Weg zur Einheit – in der Tat, dies ist die innere Bewegung der Christen und der Kirche heute.

Man könnte das an vielen Beispielen verdeutlichen, man könnte auch viele Tendenzen, Entwicklungen, Begebenheiten dagegen ins Feld führen. Wer aber die Zeichen des Geistes zu lesen vermag, der erkennt: Sie stehen auf Einheit. Auf Einheit [8] freilich, die sich nicht organisieren und bewerkstelligen, nicht mit ein bißchen gutem Willen und pragmatischem Verstand herbeiorganisieren läßt. Einheit ist Geschenk. Der Sohn hat selber sie vom Vater als letztes und höchstes erbeten. Doch nichts braucht mehr Achtsamkeit, Leidenschaft, Bemühung, Arbeit als die Öffnung für dieses Geschenk.

Der geistliche Weg des Fokolar, der 1943 durch Chiara Lubich in Trient seinen Anfang nahm und der heute, nach vierzig Jahren, eine unübersehbar breite Weggenossenschaft in aller Welt gefunden hat, steht unter dem Leitmotiv des letzten Willens Jesu, unter dem Leitmotiv der Einheit.

Dies war nicht so programmiert, sondern ergab sich aus der inneren Logik jenes Lebens nach dem Evangelium, jener gemeinsamen Christusnachfolge, zu denen Chiara Lubich und ihre ersten Gefährtinnen sich gerufen wußten. Das Überraschende an diesem Weg: Gerade in seiner Spontaneität, in seiner Orientierung am Evangelium allein bilden sich Wegmarken heraus, die dem Verstehen und Vollzug zeigen, wie das geht: Einheit. In diesen Wegmarken ist eine Fülle theologischer Einsicht investiert; aber diese Einsicht ist nicht das deduktive und konstruktive Prinzip, sondern sie steckt einfach drinnen im Hören, im Leben, im Gehen selbst.

Die nachfolgenden Betrachtungen haben sich keineswegs zur Aufgabe gestellt, die theologische Fülle, die in diesem Weg der Einheit geborgen ist, ans Licht zu heben und reflexiv aufzuarbeiten. Hierzu gibt es schon einige wichtige Ansätze und Beiträge, nicht zuletzt von Chiara Lubich selbst. Die Sache dieses kleinen Buches ist eine viel bescheidenere. An einigen Stationen des geistlichen Weges der Einheit, der sich im Leben der Fokolar-Bewegung herausgebildet hat, wird innegehalten zum Gespräch. In diesem Gespräch werden Grundzüge der menschlichen und geistlichen Situation heute, elementare [9] Inhalte des Evangeliums und geistliche Weisheit und Erfahrung des Fokolar in Beziehung zueinander gesetzt. Einheit – der Schlüssel zu ihr: Jesus in seiner Verlassenheit am Kreuz – der auferstandene Herr in der Mitte – der Wille Gottes als die Leitlinie aller Berufung des Christen: dies sind die Wegmarken, an denen das Gespräch geführt wird. Zwei andersgeartete und doch in dieselbe Perspektive gerückte Themen werden noch hinzugefügt: der Bischof und die Priester heute. So sehr das Fokolar primär eine Laienbewegung ist, so viel Licht wirft seine Spiritualität doch auf den Dienst des Bischofs und auf die Berufung des Priesters.

In allen Beiträgen wird Bezug genommen auf Texte von Chiara Lubich. Wo ausdrücklich diesen Texten entlanggegangen wird, da werden sie um des deutlicheren Bezuges willen nicht nur in der deutschen Übersetzung, sondern auch im italienischen Urtext wiedergegeben. Die fünf Beiträge gehen zurück auf Meditationen, die der Verfasser bei verschiedenen Begegnungen von Bischöfen aus aller Welt hielt, die der Fokolar-Bewegung befreundet sind; der sechste Text wurde bei einem großen Treffen von Priestern und Ordensleuten vorgetragen, zu dem die Fokolar-Bewegung im April 1982 in die Audienzhalle Paul VI. einlud.

Was ist Anlaß, diese Beiträge zu einem Buch zusammenzufassen? Trotz aller Bruchstückhaftigkeit des Buches im ganzen wie im einzelnen ist insgesamt der Dreiklang durchgehalten: geistliche Erfahrung des Fokolar, allgemeine Erfahrung der Zeit, theologische Überlieferung und Reflexion. In „guten Zeiten“ der Kirchengeschichte und der Theologie war ein solcher Dreiklang in den Ohren aller, haben sich aus ihm die großen Gestalten der Lehre und des Lebens erbildet und genährt. Wo Welterfahrung, Geisterfahrung und theologische Wissenschaft auseinanderbrechen, geht allen dreien Entschei- [10] dendes verloren. Gehört es nicht zu einem Weg der Einheit, daß auf ihm sich auch diese drei Töne wieder in ihre Harmonie fügen? Solches wäre nicht nur der Theologie, es wäre der Kirche und dem Menschen überhaupt von Nutzen. Einen bescheidenen Fingerzeig in diese Richtung wollen die nachfolgenden Seiten geben.

Aachen, Pfingsten 1982

Klaus Hemmerle