Wahrheit und Liebe – ein perichoretisches Verhältnis

Wahrheit als perichoretisches Verhältnis

Die quaestio I der „Quaestiones disputate de Veritate“ des Thomas von Aquin – und vor allem ihr erster Artikel – gehört zu den Grundtexten, die uns eine Phänomenologie der Erkenntnis und somit der Wahrheit erschliessen. An einige leitende Motive sei hier erinnert: Die Seele ist „geboren“ (also von ihrer Natur her darauf angelegt), mit allem, was ist, übereinzukommen. Sie ist in diesem Sinne „gewissermassen alles“. Der in ihr innewohnende Intellekt kommt zur Erkenntnis und somit zur Wahrheit, indem er sich dem Seienden assimiliert, sich also in Entsprechung zu ihm bringt. Wahrheit ist so „convenientia entis cum intellectu“ oder „adaequatio rei et intellectus“.

Was steht hinter solchen Bestimmungen? Im Seienden lebt eine Offenheit für das Erkenntnisvermögen, die ihm nicht nur äusserlich ist, sondern mit seinem Sein als solchen zusammenfällt. Das Sein ist von seiner Natur her darauf angelegt und dazu befähigt, sich im Denken zu lichten, im Denken als es selber anzukommen und darin, recht verstanden, „zu sich“ zu kommen. Umgekehrt ist der Intellekt nichts anderes als ein Sich-Ausstrecken zur Wirklichkeit, ein Sich-Ausstrecken zum Sein, um es im Seienden zu erheben und ausdrücklich zu machen. Das in der Begegnung mit dem Seienden sich entzündende und diesem sich angleichende Denken ist weder eine bloss äussere Nachahmung eines vom Seienden ausgehenden Impulses, noch produziert der Intellekt Gestalten seiner selbst, die über Seiendes gestülpt würden, um es handhaben zu können. Nein, im Denken geht es um die Frage: Was ist das, was mir da begegnet? Diese Hinorientierung auf das Sein des Seienden hat immer schon die Äusserlichkeit eines bloss zum Sein oder Denken zusätzlichen Verhältnisses zwischen Sein und Denken übersprungen, Denken ist je schon beim Sein angekommen, wie umgekehrt auch Sein immer schon beim Denken angekommen ist. Erkenntnis ist so zwar mehr als eine blosse von Begegnung mit Wirklichkeit ausgelöste Wiedererkenntnis in der Seele bereits vorrätiger Begriffe, diese werden vielmehr im Kontakt mit der lebendigen Wirklichkeit erbildet. Nichtsdestoweniger werden sie erbildet als Begriffe dessen, was das Seiende wirklich ist, es herrscht conformitas, convenientia, Übereinstimmung in der das Sein als solches bestimmenden Form, Zusammenkommen im einen und selben, was des Seienden und was des Intellektes ist.

Dann aber ist der Vorgang sich lichtenden Seins ins Denken und der Vorgang des lichtenden Denkens ins ihm gegebene Sein Vorgang in ein perichoretisches Verhältnis: Das Seiende enthält als sein Eigenes die vom Erkennen erhobene Form, es ist das, als was es erkannt ist, und umgekehrt enthält das Denken erkennend das Sein des Erkannten. Im Wahrnehmen und Identifizieren des Seienden zu sich gekommenes Denken kommt zu den Dingen, zu ihrer Wahrheit und enthält sie in sich. Wahrheit ist das perichoretische Verhältnis, in welchem Sein seine Kognoszibilität, Erkennen die Entität des Seienden umfängt. Sein ist im Denken, Denken ist im Sein, und so ist im Denken und im Sein die Wahrheit.

Es tut freilich not, darauf hinzuweisen, dass solche Perichorese zwischen Sein und Erkennen im Endlichen nur auf je endliche Weise realisiert wird. Erkennen und Sein enthalten einander, sie bleiben einander aber auch in dem Sinne vorent-[109]halten, dass endliches Erkennen das ihm gegebene Sein nie erschöpfend umfängt und umgekehrt auch Denken je über das Sein des Seienden allein hinaus ist. Perichoretisches Verhältnis von Denken und Sein – Entsprechendes lässt sich über alle anderen perichoretischen Verhältnisse im Feld der Endlichkeit oder im Feld des Miteinander von Endlichkeit und Unendlichkeit sagen - hat stets teil an der analogia entis.

Wahrheit als perichoretisches Verhältnis ist indessen nur in einer seiner Dimensionen im Blick, wenn sie verstanden wird als Innesein des Denkens im Sein und des Seins im Denken. Indem das Denken das Sein im Seienden erhebt, hebt es dieses Sein in eine Weise von Ausdrücklichkeit und Ausdrückbarkeit, die wesenhaft mit Sprache, mit Kommunikation zu tun hat. Es geht nicht anders: Denken hat Sein in sich, indem es das Sein zur Sprache bringt, im Ansatz (Sprache ist hier in einem weitesten Sinn zu verstehen) „versprachlicht“. Wahrheit ist derart, dass man über sie sprechen kann, sie aussprechen kann; dies gilt gerade auch dort, wo sie in jener Grösse und Dichte aufgeht, dass man nur über sie und vor ihr zu schweigen vermag. Schweigen ist nicht eine unsprachliche, sondern eine sprachhafte Qualität. Das durch Leo den Grossen im Blick auf die Inkarnation formulierte Axiom, dass dasselbe, was es uns unmöglich macht zu sprechen, uns auch zwingt, nicht zu schweigen,1 hat, recht verstanden, auch eine philosophisch grundsätzliche Bedeutung. Das „Zu-Gross“ der Wahrheit kommt in der Sprache an, kommt selber zur Sprache, hat im Schweigen einen Ort innerhalb der Sprache.

Wenn Sein im Denken ankommt, zur Sprache kommt, dann kommt es ins Gespräch, ins Miteinander der Sprechenden. Sein ist dergestalt im Denken, dass es im Denken vieler, im Denken aller ankommt. Der aristotelisch-thomistische Satz „anima est quodammodo omnia“ wäre zu ergänzen: „anima est quodammodo omnes“. Nicht im Sinn einer averroistischen Nivellierung der Individuen in einen einzigen, alle durchströmenden Intellekt, nicht auf die Weise einer Weltseele, wohl aber im Sinne des Sein-könnens und Seins der Seele auch in den anderen Seelen, des Erkennens und somit des Erkennenden auch in den anderen Erkennenden. In dem Denken in allen ist es perichoretisch zugegen in allen. Der eine Gedanke in ihnen ist je mein, je dein Gedanke, er wird auf je die meine, je die deine Art ergriffen, artikuliert, formuliert; indem er aber Partner in ihrer Eigenheit konstituiert, konstituiert er auch das Gespräch. Und Gespräch heisst: Du bist in mir und ich bin in dir, das Ganze ist in mir und ist in dir.

Hier wäre eine ganze Reihe von perichoretischen Verhältnissen des näheren zu entfalten; es genüge jedoch, auf einige von ihnen hinzuweisen. Denken und Sprache stehen in einem perichoretischen Verhältnis zueinander - Sprache und Sprache stehen in einem perichoretischen Verhältnis zueinander, sie haben die Chance, ineinander präsent zu werden, es gibt eine grundsätzliche Übersetzbarkeit von Sprache – die Sprechenden selber stehen in einem perichoretischen Verhältnis zueinander, und gerade dies berührt den springenden Punkt: Der Ort der Wahrheit ist das perichoretische Verhältnis der Denkenden und Sprechenden zueinander. In ihm offenbart sich die Sprachlichkeit von Denken und von Sein als diesen ursprünglich innewohnend und entfaltet sich die Formulierbarkeit des Denkens und somit des [110] Seins im Denken in Formuliertheit, in Sprache, in Erkenntnis. Es wäre unschwer zu zeigen, dass auch das „einsame Subjekt“ im Grunde eingefügt ist ins umfassende Gespräch, in welchem Wahrheit im Medium der Endlichkeit allein zur Entfaltung kommt.

Christen wissen, dass diese Gesprächshaftigkeit von Wahrheit kein Notstand im Medium des bloss Endlichen ist, sondern dass in ihr jenes Gespräch nachhallt, das die Ipsa Veritas, das Gott selber ist.

Auch im Philosophischen bereits gilt: Über die – bildhaft ausgedrückt – Tiefendimension von Wahrheit als perichoretisches Verhältnis zwischen Denken und Sein und die flächige Dimension der Perichorese zwischen den Partnern des Gesprächs, welches Wahrheit ist, hinaus muss die Höhendimension der Perichorese zwischen unendlicher und endlicher Wahrheit, zwischen Gott und den Menschen zumindest in den Blick kommen. Diese Perichorese sagt: Unser menschliches Erkennen ist im Erkennen Gottes enthalten, und unser menschliches Erkennen hat Teil am Erkennen Gottes. Die Wahrheit, auch in ihrer endlichen Gestalt, in der sie uns gegeben ist, hat von sich selbst und von innen her ein Licht und eine Kraft, die uns hinführen zur Ipsa Veritas, zu Gott selbst; und umgekehrt ist unser Erkennen nur begründet im Sich-Teilgeben der absoluten Wahrheit an uns endliche Wesen. Gottes Denken ist immer, auch wenn es nie von uns ausgedacht und ausgelotet werden kann, ein Zudenken auf unser Denken hin – unser Denken ist, so bruchstückhaft, ja scheiternd es geschieht, im Ansatz immer bereits Mitdenken mit dem Denken Gottes selbst. Hier schlägt freilich der analoge Charakter von Perichorese kraft der Ungleichgewichtigkeit ihrer beiden Pole radikal zu Buche.


  1. Vgl. Sermo XXIX. In Nativitate Domini, IX, cap. 1, PL 54. ↩︎